Oskar Negts Vorstellungen von
Arbeit und
menschlicher Würde
Oskar Negt hat in der gegenwärtigen Stagnationsperiode des
Kapitalismus ein sehr aktuelles Buch vorgelegt: „Arbeit und menschliche Würde“,
erschienen bei Steidl (Göttingen 2001). Da wir schon oft Negt kritisiert haben,
wollen wir zunächst einmal sine ira et studio seine Thesen vorstellen.
Negt fragt, wie die „Strukturprobleme der Erwerbsgesellschaft“ beseitigt
werden? Im Umschlag seines Buches heißt es: „Oskar Negt beschreibt
Arbeitslosigkeit als einen Gewaltakt, der Millionen von Menschen um ein Leben in
Würde bringt – und das, obwohl die Industriestaaten heute reicher sind denn
je.“ Er hat das Projekt eines Sozialismus’ als zur Zeit nicht durchsetzungsfähig
abgeschrieben und plädiert auf dem Boden der bestehenden – wenn auch
reformierten - Herrschafts- und Machtverhältnissen. Negt folgt überhaupt den
Tendenzen der Gesellschaft, „vor allem seit die Idee des Sozialismus (...)
geschichtlich als ausgestanden betrachtet wird“ (S. 416). Er möchte Kultur
und Würde auf der einen Seite und Arbeit auf der anderen wieder zusammenführen.
„Lebendige Arbeit aus den Machtmanipulationen der ersten Ökonomie herauszulösen
– das ist der wesentliche Zweck eines ökonomischen Umdenkens unserer
Gesellschaft.“ (S. 306) Da in der
Industrie die Arbeitsplätze durch die Rationalisierungen nicht mehr für alle
Menschen ausreichen, plädiert Negt für eine andere Auffassung von produktiver
Arbeit. An der amerikanischen und holländischen Vollbeschäftigung analysiert
er, dass diese nur scheinbar besteht, beide Länder keine Alternative für würdevolle
Arbeit sein können. „Lebendige Arbeit muß dem Kapital entzogen werden, um
Medium der Krisenbewältigung zu sein. Denn es ist
ja nicht der Mangel an Kapital, der die Krise auslöst, sondern der Überfluß
und vor allem die Struktur, die so angelegt ist, daß für wachsende Produktion
relativ und absolut weniger lebendige Arbeit angesaugt wird.“ (S. 369)
Statt dessen solle eine „Zweite Ökonomie“ installiert werden, die
nicht dem betriebswirtschaftlichen Denken des Kapitals folgt, sondern an den Bedürfnissen
des Gemeinwesens orientiert ist. Ähnlich, wie Habermas zwischen Arbeits- und
Lebenswelt unterscheidet, so Negt zwischen „Erster Ökonomie“ des Kapitals
und einer „Zweiten Ökonomie“ (S. 405)
des Gemeinwesens, die an Vernunft, den Bedürfnissen der Menschen, an Würde
und innerer Befriedigung orientiert sein soll. Das Verhältnis dieser beiden Ökonomien
ist gekennzeichnet durch die Beschränkung der „Ersten Ökonomie“. Mit
theoretischer Poesie bis hin zum Gedanken des „Ganzen Hause“ der Antike erklärt
und erläutert er sein Konzept. Uns kann es hier aber nur um das Wesentliche
gehen: Ist dieser Grundgedanke Negts richtig oder falsch? Negt geht einerseits
von den bestehenden Herrschaftsverhältnissen aus, wer etwas ganz anderes will,
wird als ohnmächtig charakterisiert, der seine Kritik nur als Selbstentlastung
betreibe und nur dem „abstrakt-radikalen Anderen“ (S. 404 f.)
hinterherlaufe. Zugleich geht aber seine revolutionäre Rhetorik mit ihm
durch, wenn er fordert: „Wer nicht die Herrschaftsverhältnisse als Ganze
abschaffen will, wird sie auch in ihren Teilaspekten nicht überwinden können.“
(S. 584) Dass es Negt nicht darum geht, die Eigentumsverhältnisse als
Ganze abzuschaffen, ist der Tenor seines gesamten Buches. Tatsächlich will er
nur linkssozialdemokratisch dem Kapital Grenzen setzen, Arzt am Krankenbett des
Kapitalismus sein. Die ganze Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ist für
ihn ein Versuch, „der Kampf der Arbeiterbewegung genauso wie die Bismarcksche
Sozialgesetzgebung (...), den Wirkungen der Kapitallogik, die in nichts anderem
besteht als einer fortwährenden Risikoproduktion, institutionelle und
moralische Grenzen zu setzen. Auch die soziale Marktwirtschaft der
Nachkriegszeit ist ein solcher Versuch, das Kapital und den Kapitalismus zu
domestizieren, seine Beißhemmungen, die ihm eigentümlich sind, auf ein erträgliches
Maß zu bringen.“ (S. 606 f.)
Dass die kapitalistische Ökonomie aus sich heraus kein
Gemeinwesen aufrechterhalten kann, ist bereits Erfahrung der liberalen
Theoretiker wie John Locke. Sonst benötigte die kapitalistische
Produktionsweise auch keinen Staat und staatliche Regulierungen der Geschäftsbedingungen.
Negt will aber mehr als dies, er will das frei florierende Kapital enteignen und
für nützliche Beschäftigungen für das Gemeinwesen ausgeben. Hat sich also
bisher das Kapital einen Staat geschaffen, der es notwendig darauf restringiert,
dass es überhaupt funktionieren kann, so soll nach Negt diese Restriktion
kapitalschädigend gemacht werden zugunsten „gesellschaftlicher Arbeit“, die
aber in der kapitalistischen Marktwirtschaft unproduktiv ist. Einmal angenommen,
dies gelänge in diesem Land durchzusetzen, dann würde die durchschnittliche
Profitrate sinken, damit die Möglichkeit erweiterter Investition
(„Wachstum“) und damit die Möglichkeit technologisch auf dem Weltmarkt
mithalten zu können. Ein solches Land würde nach einigen Jahren „marode“,
in den Status eines Drittweltlandes herabsinken und von der Weltbank oder ähnlichen
Institutionen abhängig, die ihm wie zur Zeit Argentinien eine „Rosskur“
verabreichen würden. Der überproportionale Anteil „gesellschaftlicher
Arbeit“ würde wie von selbst wieder verschwinden. Die Arbeitslosigkeit würde
das gegenwärtige hohe Niveau noch übersteigen und das Elend würde in allen
Bereichen wachsen. Aber solche „betriebswirtschaftlichen“ Einwände wehrt
Negt souverän ab: „Um die ‚geistige Situation unserer Zeit’ begreifen zu
können, reichen Analysen der Wirkungsgesetze von Markt und Kapital längst
nicht mehr aus.“ (S.95) Dass sie
nicht ausreichen, heißt bei Negt, dass sie ignoriert oder marginalisiert werden
können. Selbstverständlich hat eine Linke für Reformen im Kapitalismus
einzutreten, die die soziale Lage vor allem der Lohnabhängigen verbessern. Aber
sie muss gleichzeitig darauf hinweisen, dass diese soziale Lage im Kapitalismus
immer prekär bleibt, ständig das Abgleiten ins Elend droht, deshalb muss sie zugleich
auf eine Abschaffung des Kapitalismus drängen. Denn sonst weckt sie
Illusionen wie Oskar Negt. Sein weit gehendes Konzept kann im Rahmen der
bestehenden Produktionsverhältnisse nicht funktionieren.
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Auch seine Trennung von erster und zweiter Ökonomie ist so problematisch wie sein ganzes
Buch. Dass die erste Ökonomie weite Bereiche der zweiten Ökonomie dominiert,
ist dem Soziologen Negt nicht entgangen. Und so berechtigt die Kritik im
Einzelnen an den Erscheinungsweisen dieser Dominanz auch ist, zu propagieren,
man könnte die zweite Ökonomie auf dem Boden der bestehenden Produktionsverhältnisse
zur dominierenden machen, ist nicht nur eine Illusion, sondern eine Verdummung
linksbürgerlicher Intelligenz, die solche Bücher liest. Da für Negt die
moderne kapitalistische Produktionsweise ein Eden der Selbstverwirklichung sein
könnte, wenn man sie nur genügend reformiert, muss er konsequent die Marxsche Mehrwerttheorie ablehnen. Er tut dies in der ihm eigentümlichen Methode, die
utopischen Möglichkeiten, die von dieser Produktionsweise eröffnet werden, auf
deren Boden zur realisierbaren Wirklichkeit zu erklären. „Was Marx zu diesem
Komplex gesagt hat, könnte heute geschrieben sein. Indem er eigensinnig die der
kapitalistischen Produktionsweise eigentümliche Tendenz verfolgte, lebendige
Arbeitskraft ununterbrochen durch tote Arbeit zu ersetzen (was er systematisch
unter dem Titel ‚organische Zusammensetzung des Kapitals’ begriff), trieb er
die Entwicklung zu einem Punkt, an dem seine eigene Wertlehre sich aufhebt, in
der lebendige Arbeitskraft als einzige Quelle von Wert und Mehrwert verstanden
wird. Während die tatsächliche Reichtumsproduktion heute an diesem Punkt
angekommen zu sein scheint, war es für Marx allerdings unvorstellbar, daß
eine solche Aufhebung ohne fundamentale Veränderung der gesellschaftlichen
Gesamtstruktur, das heißt ohne revolutionäre Umwälzung erfolgen könne.“
(S. 366f.) Schon in der Marxschen Theorie ist die Arbeitszeit die des Gesamtarbeiters eines Betriebes, nicht nur
die Zeit, die unmittelbar in die Stückzahlen eingeht, die ein einzelner
Arbeiter schafft. Tritt der Arbeiter als Kontrolleur des Produktionsprozesses
auf, dann ist das kein Argument gegen die Arbeitswert- und Mehrwerttheorie. Für
Negt ist aber die äußere Form der Arbeit das Entscheidende, nicht die ihr
zugrunde liegende Ökonomie. „Auf einer Produktionsstufe aber, wo
gesellschaftlicher Reichtum nicht mehr vorwiegend auf Vergegenständlichungen
unmittelbarer Arbeitskraft beruht, sondern auf Regulierung, Kontrolle vergegenständlichter
Produktionsprozesse, verliert das Zeitmaß der Verausgabung lebendiger
Arbeitskraft als bestimmende Grundlage der gesellschaftlichen Produktion jede
geschichtliche Legitimation.“ (S. 368) Als
ob sich ein Unternehmen um irgendeine geschichtliche Legitimation scheren würde,
wenn es rationalisiert, entlässt es die überzähligen Arbeitskraft – bei
Strafe seines ökonomischen Ruins. Das Herumschwadronieren in utopischen
Arbeitsarten macht Negt – zumindest an dieser Stelle - blind für die realen
Erscheinungsformen dieser gar nicht mehr utopischen Gestalten der Arbeit. Während
er genüsslich auf das Anwachsen von neuen „Schlüsselqualifikationen der
Arbeiter“, die „eher auf disponierende Tätigkeitsmerkmale als auf ein
fixiertes Detailgeschick, auf dressierte Naturkraft gerichtet sind“, verweist,
wird diese „disponierende Tätigkeit“ vom Kapital bereits genutzt, um die
Risiken der Produktion auf die Lohnarbeiter abzuwälzen. Ihre Kreativität soll
sich nicht nur technisch in der Produktion verwirklichen, sondern auch in der
Marktökonomie, indem jeder Lohnabhängige zum selbstständigen Unternehmer
wird, zur Ich-AG, die man je nach Konjunktur beliebig einstellen und wieder
feuern kann. Negt sieht solche Tendenzen an anderen Stellen seines Buches auch,
zieht aber daraus keine Konsequenzen für seine illusionären Vorschläge. Oder
er zieht Konsequenzen und spricht davon, die „Herrschaftsverhältnisse als
Ganze abschaffen“ zu wollen (S. 583) im
krassen Widerspruch zur Tendenz seines Buches. Anscheinend sind Herrschaftsverhältnisse
der kapitalistischen Produktionsweise etwas Äußerliches, Aufgepfropftes. Die
Produktion und ihre immanente Tendenz ist gut, die Eigentumsverhältnisse
(Herrschaftsverhältnisse) und die Verteilung der Produkte sind schlecht, stören
nur die gute Produktion. „Arbeit ist ihrer Struktur nach zu politischer Arbeit
geworden, das heißt zu einer Form von Tätigkeit, deren Kooperationsgeist so
sehr auf das Ganze bezogen ist, daß von außen kommende Herrschaftsverhältnisse
diese Produktionstätigkeit nur noch stören, aber nicht fördern können.“
(366) Damit wären wir in der
Theorie wieder bei den Frühsozialisten und Proudhon angelangt, deren Kritik der
Arbeiterbewegung Blut und Tränen gekostet hat und eines Theoretikers wie Marx
bedurfte, der sein halbes Leben daran setzte, um deren Illusionen zu widerlegen.
Negt vergisst, dass in jeder
einzelnen konkreten Ware wie in der kapitalistischen Produktion – welche Form
sie auch immer annimmt – bereits Herrschaft inkorporiert ist. Oder sind etwa
die Börsen abgeschafft, gibt es keine Zinsen und Dividenden mehr, enthält die
Ware keinen Profit, den der Eigentümer einstreicht?
Im Titel seines Buches kommt der Begriff „Würde“ vor.
Als Leitmotiv zitiert Negt u.a. eine Definition dessen, was bei Kant „Würde“
heißt. Im Inhaltsverzeichnis wird ein Kapitel mit „Autonomie und Würde“
angeführt. Negt regt sich sogar darüber auf, dass Begriffe wie Würde „mißbraucht
wurden und unscharf geworden sind“, wodurch zugleich „Zweifel an der
zugrundeliegenden Sache“ sich ausdrücke (S. 378).
Was nach Negt Würde eigentlich ist, wird nur beschrieben, nicht
definiert, auch nicht in seiner eingeschobenen Vorlesung über „Autonomie und
Würde“, die vor allem Kants Bestimmungen zum Gegenstand hat. Durch dieses
Kapitel und das Leitmotiv übernimmt er wohl die Bestimmung Kants, nach der
gilt: „Der Mensch nämlich ist Zweck an sich selbst, er kann daher nur einen
inneren Wert d.i. Würde haben, an dessen Stelle kein Äquivalent gesetzt werden
kann. Andere Dinge haben äußeren Wert d.i. einen Preis“ (Kant) (S .8). In seiner eingeschobenen Vorlesung diskutiert Negt sogar, ob
ein Lohnabhängiger nach Kant überhaupt Würde haben kann. Dieses positive
Zitieren von Kants Begriff der Würde und seine Reflexionen darüber
widersprechen in krasser Weise seiner Forderung, die Arbeitslosigkeit auch durch
Lohnarbeit zu beseitigen: „Daß Arbeit, Leistung und Erwerb als die ‚Persönlichkeit’
integrierende Normen der Lebensführung eine zentrale Rolle spielen, so daß der
Entzug dieser Realitätsverbindung als Angriff auf die individuelle Integrität,
auf Würde und Ansehen wahrgenommen wird, das sind mittlerweile absolut erhärtete
Resultate von Arbeitslosenuntersuchungen.“ (S. 257)
Tatsächlich produziert der Lohnarbeiter einen Lohn für sich und einen
Mehrwert für das Kapital, das diesen Mehrwert sich kostenlos aneignet. Insofern
ist der Arbeiter für das Kapital bloßes Mittel und nicht Selbstzweck,
Lohnarbeit ist also würdelos und widerspricht dem Moralgesetz Kants, das Negt
ja ebenfalls akzeptiert. Die richtige Konsequenz aus dieser Einsicht über die
Unverträglichkeit von Würde und Lohnarbeit wäre es, genügend
Arbeitslosengeld zu fordern, damit der Arbeitslose an den Genüssen der Kultur
wie sein arbeitender Kollege teilhaben kann und zugleich darauf hinzuweisen,
dass diese Forderung von einer kapitalistischen Gesellschaft nicht erfüllt
wird, der Arbeitslose zumindest langfristig bloß eine Existenzsicherung
bekommt, in “Deprivation, Enteignung, Reduzierung des Lebensniveaus,
chronische Krankheiten, Obdachlosigkeit, sozialpsychiatrische
Betreuungsbereiche, Armut“ (S. 257) abzugleiten
droht. Da Negt die Lohnarbeit und ihr ökonomisches System nicht abschaffen,
sondern nur eindämmen und ergänzen will, fordert er in einem Kapitel Würdelosigkeit
und im anderen Würde.
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Rosa Luxemburg war eine der schärfsten Kritiker
sozialdemokratischen Opportunismusses..
Es ist an der Zeit, die immanente Kritik zu beenden, und
zur Funktion und Wirkung solcher Bücher wie das von Negt überzugehen. Die
gesamte Tendenz des Buches ist die Affirmation des Bestehenden – allerdings
unter dem Mantel der Kritik und der Verbreitung von Illusionen. Die Gesinnung
Negts ist „positivistisch“: Die gesellschaftlichen Phänomene werden als
solche hingenommen und bestenfalls auf eine sozialdemokratische Alternative hin
interpretiert, die nicht funktionieren kann. Die sozialen Antagonismen werden
tendenziell nivelliert, indem sie in eine eigene Sphäre abgeschoben werden –
wider allgemeiner Einsicht in die Dialektik von Besonderen und Allgemeinen (vgl.
S. 677). Die „Übersetzung“ der systemkritischen Begriffe in affirmative,
ist am Begriff „System“ selbst abzulesen. Dieser Begriff wird exiliert in
den abgeschiedenen Bereich der Wirtschaft, während sich in der „Lebenswelt“
(S.593) der Eigensinn
austoben kann. Dass der Eigensinn wesentlich von der „Systemwelt“ geprägt
und gesteuert wird, also gar nicht so eigensinnig ist, widerspricht der
Negtschen Dichotomie und straft sie Lügen. Die Angst zur „freischwebenden
Intelligenz“ zu gehören, nötigt Negt, die Nähe der Macht zu suchen,
Politikberater zu sein, ohne deshalb seine Lesefrüchte aufzugeben, sie werden
einfach uminterpretiert, damit auch ein „Mann der Wirtschaft“ damit etwas
anfangen kann. Was Adorno einst über die Soziologie von Mannheim sagte, trifft
auch auf die Negts Schreibe zu: Sie bedient sich der sozialkritischen Termini
und nimmt ihnen zugleich den Stachel (vgl. Prismen, S. 33).
Dass es noch mehr Parallelen zwischen Mannheim und Negt gibt, ist wohl
dem sozialogischen Denken überhaupt geschuldet, das seine Daseinsberechtigung für
die kapitalistische Gesellschaft nur legitimieren kann, indem es Lösungsvorschläge
für gesellschaftliche Krisen macht, dadurch die Probleme aufzeigen, aber
zugleich auch affirmieren muss.
Negt geht von Tendenzen und deren begrifflicher Fassung aus, ohne den darin
wirkenden Prinzipien selbst die Legitimation abzuverlangen. Sind in der bürgerlichen
Soziologie die Individuen bloße Agenten der objektiven Tendenz, so bei Negt
Vollzieher seiner auf diesen Tendenzen beruhenden theoretischen Anregungen.
„Erst wenn wir Rationalität, Modernisierung, Globalisierung wieder in den
Horizont alternativer Vorstellungen von einem gesellschaftlichen Ganzen zurückholen,
können neue soziale Bewegungen an Boden gewinnen.“ (S. 677)
Dass soziale Bewegungen aus Not entstehen oder aus einem moralischen
Impuls heraus, kommt kaum vor. Dass sie einer theoretischen Klärung bedürfen,
wird von Negt einerseits gefordert und mit dieser Schrift zugleich sabotiert.
Auf einer durch Begriffe wie: „Werte“ (passim), „Zusammenhalt des
Gemeinwesens“ (passim), „Arbeitgeber“, „Appell an die wirtschaftlich Mächtigen“,
„Paradigmenwechsel“ (S. 594), „Verteilungsgerechtigkeit“ (S. 277 ff.),
„definierten Koordinatensystem“, basierenden Schrift erscheinen die
bestimmenden Gesetze der Produktionsweise samt allen, was sie für das Dasein
der Menschen bedeuten, als kontingent oder akzidentell, als bloße soziologische
„Differenzierungen“. Negt scheut sich noch nicht einmal, die
gesellschaftlichen Krisen, die der Kapitalismus erzeugt, zum Problem des
Menschen hochzustilisieren. Zustimmend zitiert er Günther Anders These von der
„Antiquiertheit des Menschen“ und macht aus dem historischen Problem der
kapitalistischen Gesellschaft ein anthropologisches. Negt will „planen“,
ohne zum Grund durchzudringen, der vernünftiges Planen verhindert. Der Autor
appelliert an die Macht der Vernunft und vergisst, dass die Vernunft des
Heutigen die blinde Vernunft der heute Mächtigen ist. Negt ersetzt Theorie als
systematischer Zusammenhang von Urteilen über einen Gegenstandsbereich durch
assoziative Aneinanderreihungen von theoretischen Versatzstücken, Erzählungen
und soziologischen Befunden. Abgesehen von dieser essayistischen Schreibweise
strotzt sein Buch von Widersprüchen, nicht nur was seine allgemeine Tendenz
betrifft. Der Autor beruft sich z.T. auf die kritische Theorie von Marx und
macht aus ihr eine affirmative. Das Buch von Negt ist theoretischer
Eklektizismus.
Die Konstruktion des Negtschen Textes entspricht der des
Films. Die Gedanken werden nach dem Assoziationsprinzip verknüpft. Oft
enthalten die Kapitel etwas anderes, als ihre Überschrift andeutet. Montage von
Bildern können bei einem denkenden Publikum eine Erkenntnis befördern, die
Montage von Theoremen nach dem Assoziationsprinzip verweigert das, was
begriffliches Denken leisten kann, den Dingen auf den Grund zu gehen, die
Objekte des Denkens streng zu entwickeln. Stattdessen wird in Negts Buch durchgängig
auf das – zugegeben höhere - Unterhaltungsbedürfnis seiner Studenten und Anhänger
Rücksicht genommen, ohne das wirklich die Langeweile verloren geht, die eine
oberflächliche Referenz auf Bildungsgüter auslöst. Fast alle populären Sprüche
kritischer Theorie kommen in Negts Schrift vor. Doch die kritischen Sätze
werden bei Negt regelmäßig uminterpretiert, verflacht, ihres Gehalts beraubt,
also zur Affirmation des Bestehenden verbogen. Zwar kritisch gegen diesen
Unternehmerverband oder jene konservative Stiftung und ihre Denker, aber das
Ganze affirmierend. Jeder ehemalige Linke oder Noch-Linke kann sich
wiederfinden, sich eventuell identifizieren oder an seine heroische
Theoriejugend erinnern. Und er wird zugleich vom Handeln entlastet auf Grund der
Undurchführbarkeit seiner Thesen. Sein adäquates Publikum sind die Restlinken
mit Reihenhaus, deren Herzen durch revolutionäres Vokabular höher schlagen und
die sich zugleich in ihrer Anpassung bestätigt sehen.
Jeder hat das Recht affirmativer Philosoph zu sein, diese
Bejahung der gesellschaftlichen Totalität aber als kritische Theorie zu
verkaufen, ist Verachtung seiner akademischen Lehrer, sozialdemokratische
Ideologie und Verdummung des naiven Lesers.
Der Rat der Volksbeauftragten 1918:
V.l.n.r.: Emil Barth, Otto Landsberg, Friedrich Ebert, Hugo
Haase, Wilhelm Dittmann, Philipp Scheidemann
Der Verrat an der Revolution: Friedrich Ebert hatte explizit
das Ziel, sich an die Spitze der Revolution zu stellen, um sie abzuwürgen. Dies
konnte er nur, indem er das Abwürgen mit revolutionären Phrasen inszenierte.
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