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Geschichte der Ethik

 

Bodo Gaßmann

  Moral und Herrschaft

 

Die Entstehung der Moral am Beispiel des Dekalogs

 

 Inhalt  

  1. Die Sitte in der Gentilgesellschaft
  2. Die altisraelitische Gesellschaft und die Moral der Weisheit
  3. Die Moral des Dekalogs  
  4. Die Gebote im Einzelnen:  Das 1. Gebot / Das 2. Gebot / Das 3. Gebot / Das 4. Gebot / Das 5. Gebot / Das 6. Gebot / Das 7. Gebot / Das 8. Gebot / Das 9. Gebot / Das 10. Gebot
  5. Aporien der Moral des Dekalogs

          Anmerkungen   /   Literaturliste

    

1.   Die Sitte in der Gentilgesellschaft

 

Moral ist eine historisch späte Erscheinung im Zusammenleben der Menschen. Dem scheint die anthropologische Tatsache zu widersprechen, nach welcher der Mensch nicht durch seine (rudimentären) Instinkte in der Natur überlebt, sondern durch seinen mehr oder weniger entwickelten Verstand, weshalb er seine Beziehungen durch Kultur und nicht durch biologische Schemata reguliert. Er müsste demnach, seit er das Tierreich verlassen hat, Moral besitzen. Dies ist jedoch falsch. Zwar lassen sich mittels Sprache tradierte Verhaltensweisen in frühen Kulturen nachweisen bzw. haben in ungleichzeitigen primitiven Gesellschaften bis ins 20. Jahrhundert überlebt, aber solche Verhaltensmuster, die sprachlich benannt werden, sind noch keine Moral, die als Sollen einer Wirklichkeit, die dem Sollen nicht immer entspricht - denn sonst brauchte man keine Gebote als ‚Sollen’ -, entgegengesetzt werden müssen und die mit einem gewissen Zwang verbunden gedacht werden, um sie durchzusetzen. Die etymologische Entstehung der Begriffe ‚Ethik’ und ‚Moral’ ist ein Indiz für die Neuartigkeit dessen, was wir unter Moral seit der Antike verstehen. Beide Begriffe bezeichnen ursprünglich die Sitte, dann den Gegenstand, auf den sich die philosophische Reflexion bezieht. Erst seit Cicero setzt sich allmählich die Bedeutung von Moral durch, die Verhaltensnormen ausdrückt, die in die soziale Wirklichkeit regulierend eingreifen sollen. (1)  Aus ‚Ethos’ hatte allerdings schon Aristoteles den Ausdruck ‚Ethik’ abgeleitet, der entsprechend seinem Werktitel die Reflexion von Moral und Sitte, also deren Wissenschaft bezeichnet. Um das Neuartige an der sich herausbildenden Moral zu verstehen, muss das Wissen um den vorhergehenden Zustand vorausgesetzt werden, denn nur in Bezug auf einen Zustand ohne Moral offenbart sich die differentia specifica dessen, was Moral von naturwüchsiger Sitte unterscheidet. Die Menschen der Urgesellschaft hatten ein magisches Bewusstsein. Ihre inneren Vermögen waren für sie etwas Fremdes, ihre Psyche erschien ihnen von unbekannten Kräften beherrscht. Ihr Bewusstsein, von dem sie noch keinen Begriff hatten, erlebten sie als Schauplatz willkürlicher und unheimlicher Gewalten. Die Natur, die sie nur so weit beherrschten, um überleben zu können, versuchten sie mittels Zauber, in dem nur die Intention realistisch war, zu bannen. Sie hatten weder eine klare Vorstellung von sich als Art noch ein mit sich identisches Bewusstsein. Zwischen Subjekt und Objekt gab es dementsprechend keine deutlichen Unterscheidungen. Selbst in den Homerische Epen ist noch kein identisches Ich-Bewusstsein vorhanden, auch wenn im Unterschied zum magischen Bewusstsein die menschlichen Kräfte durch eine überschaubare Götterwelt symbolisiert wurden, was sich allerdings erst mit dem heutigen Wissen erschließen lässt. Das heißt, es fehlte ein rationales Selbstbewusstsein, dieses war nur als magisches und religiöses, aber gerade deshalb fremdes und undurchschaubares vorhanden. Dennoch musste schon das Verhältnis der Menschen in der frühen Gentilgesellschaft eine gewisse Ratio haben, denn sonst hätte sie nicht überlebt. Da dieses Verhältnis nicht biologisch vorgegeben war, musste es aus ihrer kulturellen Tradition hervorgehen. Diesen Zustand will ich im Gegensatz zu instinktiven Verhaltensmustern als einen der Sitte bezeichnen. So fanden sich bei den Tasmaniern, die noch in einer Gentilordnung lebten, folgende Begriffe, die sich auf das gegenseitige Verhalten beziehen:

der Gutmütige       -           Paegrana

der Heitere            -           binana

der Boshafte         -           cituna

der Zänkische       -           njundjana

der Schamlose     -           valabjurena (2).

  Diese Begriffe, die das Verhalten zur Sippe und zu den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft werten, sind noch ganz an die Person gebunden. Ihre Substantivierung in der Übersetzung darf nicht als Typisierung dieser Individuen aufgefasst werden, sondern sie benennt eine Eigenschaft der Einzelnen, neben der unverbunden andere stehen können. Dennoch werden hier nicht biologische Eigenschaften bezeichnet, sondern sittliche. Aus derartigen Charakterisierungen von Personen sind dann wahrscheinlich abstrakte Bezeichnungen für sittenwidriges und sittengerechtes Verhalten geworden, wie z.B. das Wort Lüge (kaitina)(2) bei den Tasmaniern. Begriffe wie ‚Lüge’ sind aber noch weit entfernt von einem expliziten Gebot: „Du sollst nicht Lügen“, das theologisch abgesichert und im Gottesdienst verlesen werden muss, um ständig daran zu erinnern, dass die Lüge (vor allem vor Gericht) eingeschränkt werden muss, soll der Zusammenhalt der Gesellschaft erhalten bleiben. Im Gegensatz zu solchen Sollensforderungen ist die Sitte noch naturwüchsig, Resultat nur teilweise bewusster Lebensverhältnisse, nicht das Produkt einer intellektuellen Reflexion. Unter Sitte verstehe ich die naturwüchsigen Gebräuche, Verhaltensmuster und Bewertungskriterien, welche die sozialen Beziehungen der Menschen regeln und die zur Gewohnheit geronnen, also habituell sind, so dass sie durch die Sozialisation den Nachkommen tradiert werden. Die Sitte ist Produkt der Kultur und insofern nicht mehr erste, sondern zweite Natur.  Soweit diese den Mitgliedern der Gentilgemeinschaft bewusst oder halb bewusst ist, wird sie durch die Alten mit lebensgeschichtlich akkumulierter Erfahrung in Riten, Mythen und magischen Bräuchen tradiert. Dass es sehr früh in der Menschheitsgeschichte bereits Begriffe für sittliches und sitten­widriges Verhalten gab, während andererseits z.B. handwerkliche Verfahrensweisen durch Nachahmen tradiert und teilweise erst Ende des 18. Jahrhundert begrifflich gefasst wurden, deutet darauf hin, dass die sozialen Beziehungen und ihre Organisation ein entscheidender Vorteil im Überlebenskampf in der Natur waren.(3) In der Gentilgesellschaft fehlen Moralvorschriften und moralische Belehrungen wie andererseits die religiösen Vorstellungen noch nicht sittliche Gebräuche absichern, sondern neben diesen stehen. Das hat seinen Grund ebenfalls darin, dass es noch keine Moral im Sinne von Vorschriften, Normen und Geboten gab, die extra gegen eine nicht immer ihnen entsprechende Verhaltensweise abgesichert werden musste. Die Sitte war gelebte Sitte, wer gegen sie verstieß, wurde aus dem Gentilverband ausgeschlossen und verlor dadurch seine physische Existenz. Ein solcher Verstoß war den anderen unerklärlich, wurde wohl als Krankheit interpretiert, denn es gab keinen Grund, gegen die Sitte zu verstoßen, weil es keinen Vorteil brachte. Im täglichen Überlebenskampf der Gens gab es noch keine Voraussetzung dafür, dass sich Einzelne auf das Denken, etwa als Priester, spezialisierten, denn diese Urgesellschaften produzierten nur so viel, dass sie überleben konnten. Der Einzelne war Teil des Kollektivs, und nur im Kollektiv konnte er überleben. „Besonders deutlich trat der kollektive Charakter der Produktion und der urgemeinschaftliche Kollektivismus überhaupt bei der Verteilung der Produkte der Arbeit für die Konsumtion hervor. Nach Ch. Mountford genoss bei den Ureinwohnern Australiens der erfolgreiche Jäger in seinem Stamm keinerlei Vorrechte beim Aufteilen oder Verteilen der Beute. Einziger Lohn des Jägers war das Erfolgserlebnis der Jagd selbst und das Lob seiner Stammesmitglieder.« (4)  Das Leben nach dem Prinzip: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“, das zwanglose Verhalten untereinander nach hergebrachter Sitte, das also, was uns heute als utopisches Moment einer Urgesellschaft erscheint (die andererseits den Launen der Natur unbarmherzig ausgeliefert war und auf primitivem materiellen Niveau dahinvegetierte), war zugleich der große Mangel dieser Kultur. Änderten sich die Umstände, musste die Sitte deshalb geändert werden, dann war dies nur unter großen Konflikten möglich. Denn diese Gesellschaften hatten kein Instrumentarium, um mit Änderungen der Lebensbedingungen anders als durch Gewalt fertig zu werden, wozu je nach Situation auch Menschenopfer, innerer Krieg und das Zerbrechen der Gens, also ihr gemeinsamer Untergang gehörten. „Diese naturwüchsigen Gemeinwesen, an deren Nabelschnur jeder Einzelnen hing (Marx), sind nicht zu verklären und nicht in reaktionärer Romantik von der Einfachheit, Natürlichkeit und Kindlichkeit des Lebens als Ideal zu propagieren. Neben den Gemeinschaftsgeist existierten zutiefst negative Sitten: Stammesbeschränktheit, Rachsucht, Grausamkeit, blinde Ergebenheit gegenüber eingebürgerten Bräuchen, tiefer, selbstgefälliger  Obskurantismus (die ‚bodenlose Unwissenheit des Wilden’) durchdrungen von Mystik, Magie und Religion.“(5)   Der blinden Kollektivität entsprechend waren individuelle Entscheidungen - ein Kennzeichen der Moral - bedeutungslos.  Wenn die gewöhnliche sittliche Leistung der Einzelnen in der Unterordnung unter die bestehenden Gebräuche liegt, dann werden Neuerungen und Initiativen unterdrückt. 

 

Die Witwe eines Aborigines darf nach dessen Tod nicht reden, erst nach einer etwa einjährigen Trauerzeit wird der Bann von ihr gelöst, indem sie einen Verwandten ihres verstorbenen Mannes in die Hand beißt. 

 

  Solche Neuerungen wurden aber in dem historischen Moment notwendig, als es den Menschen der Urzeit gelang, das materielle Niveau derart zu steigern, dass sie ein Mehrprodukt produzieren konnten, d.h. ein Produkt, das über die einfache Reproduktion hinausging, also einen Fortschritt ermöglichte. Durch die Produktion von Lebensmitteln über die Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse hinaus wird es möglich, dass sich einige dieses Mehrprodukt aneignen. Es wird Herrschaft möglich, d.i. die kostenlose Aneignung fremder Arbeit bzw. der Resultate dieser Arbeit. In fast allen Gesellschaften, die dieses Stadium der Entwicklung erreicht haben, hat sich eine Herrschaft etabliert. Dadurch, dass die Herrschenden Muße haben, d.h. freie Zeit, die sie nicht für die eigene Reproduktion aufbringen müssen, haben sie auch Zeit, sich mit Wissenschaft zu befassen. Was Aristoteles über die Mathematik sagt, gilt mehr oder weniger auch für die Moralwissenschaft: „Bei dem Fortschritt in der Erfindung von Künsten, teils für die notwendigen Bedürfnisse, teils für die (angenehmere) Lebensführung, halten wir die letzteren immer für weiser als die ersteren, weil ihr Wissen nicht auf den Nutzen gerichtet ist. Als daher schon alles Derartige geordnet war, da wurden die Wissenschaften gefunden, die sich weder auf die notwendigen Bedürfnisse, noch auf das Angenehme des Lebens beziehen, und zwar zuerst in den Gegenden, wo man Muße hatte. Deshalb bildeten sich in Ägypten zuerst die mathematischen Künste (Wissenschaften) aus, weil dort dem Stande der Priester Muße gelassen war.“ (6)  Der Preis dieses Fortschritts ist die Ausbeutung des überwiegenden Teils des Volkes durch die Herrn. Diese Arbeitsteilung in wenige Herrschende, die sich kostenlos das gesellschaftliche Mehrprodukt aneignen, und Beherrschte, die es produzieren, setzt die Dialektik von Herrschaft und Kultur in Gang, die bis heute andauert. Die Muße der Herrschenden ermöglicht ihnen, den kulturellen Fortschritt zu befördern, aber nur dadurch, dass sie die Mehrheit von diesem Fortschritt mehr oder weniger ausschließen. Da die Arbeitenden auf Dauer nicht freiwillig einen Teil ihres Arbeitsproduktes abgeben, muss dieses mit Gewalt ihnen abgepresst werden. Gewalt in der Gesellschaft kommt dann nicht mehr sporadisch vor wie in der Gentilgesellschaft, sondern wird notwendiges Moment herrschaftlich verfasster Gesellschaften. Auch wenn die Gewalt im Recht, etwa dem Eigentums- und Strafrecht, vorübergehend stillgestellt wird, gehört sie doch zur „Struktur“ der Gesellschaft bis heute. Solange es auch für die Beherrschten plausibel ist, das Mehrprodukt abzugeben, etwa weil sie dafür Schutz bekommen oder weil die Herrschaft ein landesweites Kanalsystem zur Bewässerung der Felder aufrechterhält, wird die durch die entstandene Herrschaft etablierte Sitte genügt haben, den Stamm, das Volk zusammenzuhalten; fällt aber diese Gegenleistung wegen innerer oder äußerer Krisen weg, hat das geistige Niveau sich derart entwickelt, dass die Beherrschten nach plausibleren Gründen für ihre Abgaben und Dienste verlangen, dann muss die vorherrschende Sitte, die die Beherrschten in ihrer Rolle als Arbeitende fixiert, nämlich kostenlos für andere ein Mehrprodukt zu erzeugen, ihnen als unbilliger Zwang erscheinen. Erst in diesem historischen Moment wird die Sitte für die Gesellschaft, die aus Herren und Knechten besteht, zum Problem. Die Priester haben deshalb die Moral erfunden, um die Gesellschaft zusammenzuschweißen. In der Einsicht, dass die vorherrschende Sitte einer bewussten Ergänzung bedarf, die sie den Beherrschten plausibel macht, haben die Priester die Gebote als Sollensvorschriften aufgestellt, sie theologisch und pragmatisch begründet, um den Verstoß gegen das Herkommen einzudämmen. Dies lässt sich exemplarisch an der Entstehung der Moral in der altisraelitischen Gesellschaft demonstrieren.

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2.   Die altisraelitische Gesellschaft und die Moral der Weisheit

 

Ursprünglich waren die Israeliten Nomadenstämme von Kleintierhaltern, die in Sippen miteinander lebten, die aus mehreren Großfamilien, in denen mehrere Generationen lebten, bestanden. Sie betrieben im Wesentlichen Subsistenzwirtschaft. Die Sippen bzw. Familien waren weitgehend autark, auch wenn Handwerksprodukte, vor allem Metallprodukte, aber auch Getreide eingetauscht werden mussten. Ihre Organisation bestand in ungeschriebenen Gewohnheitsrechten. Der Tüchtigste wird zum Anführer gewählt, wenn durch Raub das kärgliche Leben aufgebessert werden soll. Um sich vor einer feindlichen Umwelt behaupten zu können, existierte die Institution des Heerbanns, dessen Befolgung jedoch freiwillig war. Zwar hatten sie bereits Richter, doch die Durchsetzung des Richterspruchs oblag der Sippe, sie hatte gegebenenfalls die Blutrache zu vollziehen oder zu erleiden. Zwar ist eine Individualisierung der Sippen zu erkennen, aber der Einzelne ist nur Mitglied eines Kollektivs ohne erkennbare Individualität. Die Sippe als wichtigste Organisation in der Gesellschaft wird durch Verwandtschaft und dem entsprechend durch das Bewusstsein der Genealogie zusammengehalten. Der Besitz an Vieh ist unsicher, den Wechseln des Zufalls ausgesetzt, so dass Freigiebigkeit und Gastfreundschaft zu den Tugenden dieser Nomaden gehörten, wie andererseits sie sich nur behaupten konnten, wenn sie auf ihre Ehre bedacht waren, d.h. z.B., dass sie nicht auf die Blutrache verzichten konnten, wollten sie sich vor Mord schützen. Das religiöse Bewusstsein ist geprägt durch den Glauben an einen persönlichen Schutzgott, durch magische Praktiken und Zaubersprüche. Um sich in einer feindlichen Umgebung zu behaupten, schlossen sie sich zu Stämmen zusammen, die weitgehend auch noch durch Verwandtschaftsbeziehungen geprägt, also naturwüchsig waren. Durch diese größere Organisiertheit waren sie in der Lage, Siedlungs- und Ackerland in Palästina zu erobern und sesshaft zu werden. Aus der Nomadenzeit übernahmen sie ihre patriarchalische Verfasstheit. Der Familienvorsteher, der Vater, hatte fast unbegrenzte Autorität. In der Dorf- und Stadtgemeinde war nur er vollberechtigt. Die Basis seiner Freiheiten war sein Erbland - auch wenn es die moderne Form des Eigentums, über den Besitz beliebig zu verfügen, noch nicht gab. Nach der Durchsetzung des Jhwh-Kultes galt Jhwh als Schöpfer und dadurch Obereigentümer allen Landes. Mit der Landnahme in Palästina machten sich auch die sozialen Differenzierungen, die bei der Kärglichkeit des Lebens bisher nur sporadisch und unwesentlich waren, stärker bemerkbar. „Die Anführer konnten durch die Verteilung der Beuteanteile zum Träger eines Herreneigentums werden. Da sie zudem über größeren Besitz an Menschen und Arbeitstieren verfügten, waren sie in der Lage, in stärkerem Maße als die anderen das Land zu roden. Das urbar gemachte Land aber gehörte demjenigen, der es gerodet hatte. So bildete sich allmählich eine aristokratische Ordnung heraus, gekennzeichnet durch die beherrschende Stellung der bedeutenderen Grundbesitzer, die die in der früheren Stammesorganisation ihnen rechtlich gleichstehenden Männern mit mittlerem oder kleinem Besitz tatsächlich in ihre Abhängigkeit brachten und eine Oberschicht zu bilden begannen.“ (7)  Zwar gab es bereits Sklaven, sei es durch Schuldknechtschaft, sei es durch Kriegsgefangenschaft, aber die Sklaven waren noch nicht die ökonomische Basis der Gesellschaft wie etwa im antiken Griechenland oder Rom. Der Sklave war auch noch nicht rechtlos, also keine bloße Sache wie bei den Römern. Der Lebensunterhalt wurde bei den mittleren und kleineren Besitzern von allen Familienmitgliedern, wozu auch der Sklave gehörte, erarbeitet. Wie in der Nomadenzeit war der Einzelne bedeutungslos als Individuum, was sich daran zeigt, dass es keinen Begriff für Individuum gibt, ja selbst einzelne Familienmitglieder nur durch ihre Verwandtschaft benannt wurden. Subjekt ist die Familie, vertreten durch den Vater, die Sippe oder das ganze Volk. In der sittlichen Vorstellung drückt sich die Stellung des Einzelnen dadurch aus, daß als wichtigste Lehre die Gerechtigkeit galt, das war die Orientierung des Einzelnen an der Familie, der Sippe oder dem Stamm, später auch dem ganzen Volk: „Gerechtigkeit heißt Gemeinschaftstreue“. (8)  Das patriarchalische Familienverhältnis wurde analog auf die Gemeinde übertragen, die von „Ältesten“ regiert wurde. Die Israeliten mussten sich, um zwischen bereits staatlich verfassten Stadtgesellschaften bestehen zu können, selbst eine staatliche Organisation geben. Das gelegentliche Zusammenkommen der Stämme zu kriegerischen Einsätzen, der Heeresbann, reichte nicht aus, um gegen die zivilisatorisch überlegenen Bewohner Palästinas bestehen zu können. In den Königen Saul, David und Salomo fanden sie Anschluss an die damalige Kulturentwicklung. Dieser Fortschritt bedingte, dass die ehemals freien Bauern tendenziell feudalisiert wurden, sie und die Handwerker mussten mit ihren Steuern und ihrem Arbeitsdienst diesen Fortschritt bezahlen. War ein Mehrprodukt Voraussetzung der Landnahme, so erhöhte der durch die Landnahme ermöglichte materielle Fortschritt die Mehrproduktion und stellte mehr Menschen von der Arbeit frei, so dass sie sich organisatorischen, kulturellen und Wissensaufgaben widmen konnten. So reformierte Salomo das Heer, das längst nicht mehr sporadisch zusammentrat, sondern zum stehenden Heer aus Berufssoldaten geworden war (jedenfalls, die Kerntruppe: das Streitwagenkorps). Er vergrößerte den Beamtenapparat, errichtete Handelsmonopole und passte seine Hofhaltung der üblichen Pracht seiner Nachbarvölker an. In seiner üppigen Bautätigkeit verschwendete er einen Teil des Mehrprodukts als Darstellung und Legitimation seiner Herrschaft. Dies war nur möglich durch die verstärkte Ausbeutung seines Volkes, also vor allem der ärmeren Massen. Das „Erste Buch der Könige“ im Alten Testament berichtet denn auch über Klagen des Volkes gegen diese erhöhte Abschöpfung des Mehrprodukts, die allerdings erst nach seinem Tod offen dem Sohn gegenüber geäußert werden: „Dein Vater hat uns ein hartes Joch auferlegt. Erleichtere du Jetzt den harten Dienst deines Vaters und das schwere Joch, das er uns auferlegt hat“. (Kön 12, 4‑5) (Das Alte Testament als historische Quelle ist allerdings problematisch. So haben neuere Ausgrabungen gezeigt, dass die Bautätigkeit dieser Könige gar nicht so groß gewesen sind, wie im Alten Testament dargestellt wurde. Für das moralische Bewusstsein ist dies allerdings unerheblich, da es hier in erster Linie um die in den Legenden vorgestellten Argumente und Probleme in Bezug auf die Moral geht.) Die Folge dieser Ausbeutung war eine Verarmung der Bauern und Handwerker, andererseits eine Steigerung des Reichtums der sich festigenden Herrschaften. War der Kampf gegen die feindlich gesinnte Umwelt ein Grund für die Königsherrschaft, so schaffte diese zugleich neue Konflikte. Der Konflikt zwischen Beherrschten und Herrn durch die Abpressung des Mehrprodukts reproduziert sich in dem Stand der Herrschenden als Konflikt um den Anteil an diesem Mehrprodukt: Thronstreitigkeiten, Abspaltungen von einzelnen Stämmen oder die Teilung in Juda und Israel, Verhinderung von Aufständen einzelner Städte. Zu diesen neuen Konflikten blieben die alten bestehen: Kampf gegen NaturunbiIlen, Behauptung des eroberten Landes und deshalb ein permanenter Krieg mit den umliegenden Völkerschaften, Niederhalten tributpflichtiger Völker, Abwehrkriege gegen räuberische Kamelnomaden, Sicherung der Handelswege und schließlich die Bedrohung durch die Großreiche im Nahen Osten. Eine solche Konfliktlage droht ständig die Gesellschaft, die in sich immer mehr in Arm und Reich gespalten ist, zu sprengen. Gewalt als einziges Mittel, sie zu kitten, reicht nicht mehr aus. Eine Antwort der Herrschenden, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern, der die Basis ihrer Herrschaft war, ist die Erfindung der Moral (bzw. die Übernahme einer Entwicklung des Denkens, die im alten Ägypten bereits bestand).

 

Nach dem Tod wurde nach altägyptischem Mythos das Herz des Toten als Sitz seiner Seele gewogen. Wenn die schlechten Taten dem Gewicht seines Herzens überwogen, dann fraß der schakalartige Gott das Herz, so dass der Sünder nicht im Jenseits weiterleben konnte.  

 

  Die Moral der Weisheit besteht aus zu Merksätzen verdichteter Lebenserfahrung. Mit ‚Weisheit’ wird ein Denken bezeichnet, das aus der Betrachtung der Ordnungen des Kosmos, der Natur und der Gesellschaft Regeln entwickelt, die bei ihrer Beherzigung den Lebenserfolg des Menschen sichern sollen. Die Erfahrung kann die Ordnung der Welt nur partiell erkennen, weil nur Einzelphänomene der empirischen Erfahrung zugänglich sind; deshalb sind Sprichwörter, Merksätze, Epigramme und Rätsel die angemessene literarische Form dieser Moral, die Verallgemeinerung von Einzelerfahrungen zu partiellen Regeln. Die vorexilische Weisheitsmoral, deren älteste Schicht Prov 10 - 31 darstellt, ist zunächst Standesmoral der Königsbeamten, zu deren Ausbildung und Amtsführung sie dient. Neben den Berufsschreibern können hauptsächlich nur die Beamten lesen und schreiben. „Wie das Knurren des Löwen ist der Zorn des Königs, wie Tau auf den Gras sein Wohlwollen“ (Prov 19,12)(9). Die Natur wird zum Modell gesellschaftlicher Phänomene. Das Verhältnis von Ursache und Wirkung soll das Verhalten leiten: „Wie das Knurren des Löwen ist der Zorn des Königs, wer ihn erzürnt, verwirkt sein Leben“ (Prov 20,2). Aber nicht einfach Anpassung ist gefordert, sondern die aktive Ausführung der Pflichten. Wer diese nicht erfüllt, muss mit sozialer Deklassierung rechnen: „Noch ein wenig schlafen, noch ein wenig schlummern, noch ein wenig die Arme verschränken, um auszuruhen, da kommt die Armut wie ein Wanderer über dich und die Not wie ein Bewaffneter“ (Prov 24,30-34). Als Grund, die soziale Hierarchie zu akzeptieren, wird die Erhaltung des Volkes genannt: „Ohne Führungskunst kommt ein Volk zu Fall, aber Rettung ist dort, wo viele Ratgeber sind“ (Prov 14) . Das Schema von gut   und böse wird dadurch bestimmt, ob jemand den Regeln und Gesetzen folgt oder nicht, ein ambivalentes Verhalten ist nicht denkbar: „Durch den Segen des Aufrechten erhebt sich eine Stadt, aber durch den Mund des Frevlers wird sie eingerissen“ (19,11).  Dass ein Befolgen der Gesetze und Sitten nicht mehr naturwüchsig ist, kommt dadurch zum Ausdruck, dass rechte Worte nötig sind, offene Ohren und Einsicht in die Weisheitslehren: „ Mit dem Mund verdirbt der Ruchlose seinen Nächsten, aber durch Kenntnis werden die Gerechten gerettet“ (Prov 19,9). „Die Einsicht eines Menschen macht ihn langmütig, sein Schmuck ist es, über Verfehlungen (anderer) hinwegzugehen“ (Prov 19,11). Werden bewusst Regeln aufgestellt und Einsicht gefordert, steht die traditionelle Sitte sofort zu Disposition. Sie ist nur gerechtfertigt, wenn sie einsichtig ist. Damit wird sie dem überlegenden Denken unterworfen. Weitere Tugenden neben „Langmut“ sind „Selbstbeherrschung“, „Demut“, „Bescheidenheit“, an ihnen erweist sich die Ehre des Menschen; abgelehnt werden „Jähzorn“, „Torheit“, „Eifersucht“,  "Stolz“ und „Hochmut“. Die Tugenden sind funktional für eine dienende Beamtenschaft, während die Laster die Ausführung der königlichen Erlasse gefährden würden. Damit die Spannung zwischen Arm und Reich die Gesellschaft nicht sprengt, muss die Standesmoral auf einen Ausgleich bedacht sein: „Wer seinen Nächsten verachtet, verfehlt sich, wer sich aber der Elenden erbarmt – wohl  ihn“ (Prov 14,21). Die meisten Sprichworte beziehen sich weniger auf einklagbares Recht, sondern appellieren an die Freiwilligkeit des Einzelnen, an seine Einsicht und zeigen die negativen Konsequenzen für sein Leben auf, die aus einer Verletzung der Moral folgen würden. Soll er aber auf die Vergeltung des Bösen verzichten, wie es der Übergang von der Selbstjustiz zu  gerichtlicher Verfolgung verlangt, dann ist dies  aus seiner Lebenswirklichkeit nicht einsichtig, es bedarf für die Weisheitslehrer des Gottes als Garanten der Ordnung. „Jhwh läßt das Verlangen des Gerechten nicht ungesättigt, aber die Gier der Frevler stößt er zurück“ (Prov 10,3). Wird die Blutrache und die Selbstjustiz durch Gerichte mit Sanktionsgewalt abgelöst, dann muss die praktische Solidarität auch auf den Rechtsgegner („Feind“) ausgedehnt werden: „Sage nicht: Ich will das Böse vergelten, vertraue auf Jhwh, er wird dir helfen“ (Prov 20,22). „Wenn dein Feind Hunger hat, speise ihn mit Brot, wenn er Durst hat, gib ihm Wasser zu trinken. ( ... ) und Jhwh wird es dir vergelten“ (Prov 25,11). Die höchste Tugend, die Gerechtigkeit als Gemeinschaftstreue, ist moralische Voraussetzung des Zusammenhalts einer sozial differenzierten Gesellschaft. Der König wird aufgefordert: „Öffne deinen Mund für einen Stummen, für das Recht aller Schwachen. Öffne deinen Mund, richte gerecht! Und schaffe Recht dem Elenden und Armen“ (Prov 31, ? f.). „Güte und Wahrheit behüten den König, und er stützt durch Güte seinen Thron“ (Prov 20,28). Hier zeigt sich die Ambivalenz der Moral für die Herrschaft. Moral dient dazu, die Herrschaft in gesellschaftlichen Krisen und antagonistischen Konflikten abzusichern; zugleich wird die Herrschaft an ihrer eigenen Moral gemessen, ob sie ihr entspricht. Entspräche die Herrschaft nicht ihrer eigenen Moral, dann würde die Wirkung dieser Moral in der Gesellschaft verpuffen, weil sie nicht Ernst genommen werden könnte; entspricht die Herrschaft aber ihrer Moral - und sei es einer Standesmoral -, dann wird die Herrschaft selbst verändert, sie unterwirft sich mehr oder weniger einsehbaren Kriterien, wird also selbst rationaler als in der vormoralischen Epoche. Die Weisheitsmoral wird zur Kritik an der falschen Herrschaftsausübung. „Viele suchen das Angesicht eines Herrschers, aber vor Jhwh kommt das Recht eines jeden!“ (Prov 29,26)  „Ein König richtet das Land durch Recht auf, wer Abgaben erpreßt, reißt es ein“ (Prov 29,4),  (was wohl heißen soll, wer Abgaben über das üblicherweise ihm Zustehende hinaus erpresst). Ist die Herrschaft unerträglich, kann sogar auf die Natur verwiesen werden, in der Ordnung ohne Zwang, d.h. Anarchie, zu beobachten ist: „Die Ameisen sind kein starkes Volk, aber sie besorgen sich im Sommer ihre Nahrung“ (Prov 30,25). Die Weisheitsmoral war aus der Lebenserfahrung gewonnen. Zeigt diese Erfahrung aber immer wieder, dass der Unmoralische Erfolg hat, während der Moralische in Not gerät, dann wird diese Art der Moralbegründung und mit ihr die Moral selbst fragwürdig. Die Weisheitslehrer reagieren zwar auf die Diskrepanz zwischen moralischem Verhalten und mangelnden Erfolg im Leben: „Durch Unrecht erworbene Schätze nützen nichts, aber Gerechtigkeit rettet vor dem Tod“ (Frov I0,2), aber gerade diese Reaktion macht das Faktum der Diskrepanz erst deutlich: „Der Frevler macht trügerischen Gewinn, wer Gerechtigkeit aussät, hat beständigen Lohn“ (Prov 11 8). „Besser ein Armer, der ohne Schuld lebt, als ein Reicher, der krumme Wege geht“ (Prov 28,6), das heißt doch wohl, dass oft der Unmoralische zu Reichtum kommt. Diese „Aporien der Differenz von Ethos und gelingendem Leben“ (10)  werden in dieser Moral auch dadurch erklärt, dass alle menschliche Weisheit vor Gott ihre Grenze findet. „Keine Weisheit gibt es und keine Einsicht, keinen Rat, der gegenüber Jhwh bestehen kann“ (Prov 21,30). Ist die Weisheit des Gottes aber für den Menschen nicht einsehbar, dann ist die Absicherung der weisheitlichen Moral durch Gott selbst zweifelhaft. Hinzu kommt, dass die Partikularität der Moral als Standesethos der Herrschenden wie die unsystematische Form der Sprichworte zu offenen Widersprüchen zwischen den isolierten Sätzen führen müssen, zumal die Sprichworte aus den unterschiedlichsten Quellen stammen. Sollen die Sprichworte einen Ausgleich zwischen Arm und Reich bewirken und zugleich diese soziale Differenz rechtfertigen, dann müssen sich die Widersprüche zwischen den einzelnen Sätzen vor allem bei den sozialen Gegenständen zeigen: „Lässige Hand bringt Armut, fleißige Hand macht reich“ (Prov 10,4) (11 a) - im Widerspruch zu - „Der Segen des Herrn macht reich, eigene Mühe tut nichts hinzu“ (Prov 10,22). „Reichtum hilft nicht am Tag des Zorns, Gerechtigkeit aber rettet vor dem Tod“ (11,4) - im Widerspruch zu -  „Dem Reichen ist seine Habe eine feste Burg, dem Armen bringt seine Armut Verderben“ (10,15). „Der Gerechte hat zu essen, bis sein Hunger gestillt ist, der Bauch der FrevIer aber muß darben“ (13,25) - im Widerspruch zu -  „In der Hand der Vornehmen ist reichlich Nahrung; der Arme wird zu Unrecht dahingerafft“ (13,23).

  Verstärkt sich die gesellschaftliche Krise in der israelitischen Gesellschaft, wie dies durch die Bedrohung der Großreiche und die Verschärfung der sozialen Konflikte in der vorexilischen Zeit der Fall war, dann wird diese Krise zum Anlass für die Priester und Propheten, eine durchdachtere Moralauffassung zu entwickeln. Recht und Ethos wurden mehr theologisch fundiert, teilweise utopisch erweitert (11). Doch auch diese Art der Moralbegründung scheitert an der Erfahrung mit der Gesellschaft. „Die prophetischen Überlieferungen des 8. und 7. Jh. zeigen, daß sich auch die theologisch begründeten Normen nicht durchsetzen konnten. Eine Begrenzung des Pfandrechts (Mi 2,1 f.; Am 2,6.8; 5,11; Hab 2,6b) und eine Abschaffung des Zinses zugunsten des zinsfreien Notdarlehns  i st nicht realisiert worden. Den Witwen, Waisen und Bedrückten wurde nicht zum Recht verholfen (Jes 1,17). Das Prozessrecht, das Bestechung verbietet, wurde nicht befolgt, (Am 5,10.12) und die Sklavenfreilassung im siebten Jahr nicht vollzogen (Jer 34,8 ff.). Der Gesellschaftsprozeß der zunehmenden sozialen Differenzierung lief dem theologisch legitimierten Recht und Ethos diametral zuwider. Die soziale Differenzierung in arme und reiche Schichten verbunden mit der sich durchsetzenden Wirtschaftsform des „Rentenkapitalismus“ (?)  sowie die zunehmende Arbeitsteilung und Mobilität, die tendenziell die Bevölkerungsballung in den städtischen Zentren nach sich zog, zerrüttete die traditionelle Erbbodenordnung und damit die Bindung der Familien an ihren Grund und Boden (Mi 2,1-4; Jes 5,8 u.ö.)." (12)   Entsprechen die theologisch legitimierten Normen nicht der Lebenswirklichkeit, muss das zur Negation der Gottesvorstellung des diese Normen legitimierenden Gottes führen oder zur Prophetie des Untergangs des unmoralischen Volkes. Letzteres läuft auf eine völlige Hoffnungslosigkeit hinaus, die der Funktion der Moral, gesellschaftliche Einheit zu stiften, diametral zuwiderläuft. Deshalb hat sich bei den Schriftgelehrten eine metaphysische Begründung der Moral und des Rechts durchgesetzt, die von der Empirie völlig losgelöst ist.

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3.   Die Moral des Dekalogs

 

Die neue Moraltheologie, wie sie uns hauptsächlich im Dekalog, dem Bundesbuch und dem Deuteronomium entgegentritt, deren Endredaktion nachexilisch (nach 520 v.u.Z.) ist, geht nicht empirisch vor, sondern legitimiert die Moral- und Rechtsgebote aus Gott, gibt also eine metaphysische Begründung. Gott ist Weltprinzip (Schöpfer der Welt), personifizierte Naturmacht (sendet Blitz und Donner, Hagel und Sturm oder bringt gutes Wetter) und zugleich noch nicht erkannte, deshalb fremde praktische Vernunft des Menschen. Die Strukturen des Seins und das, was die Menschen darüber wissen, sind noch ungeschieden, in eins gedacht, das Bewusstsein steht noch auf dem Standpunkt einer naiven Ontologie. Doch die Differenz von ontologisch gedachtem Sein und Bewusstsein des Menschen ist an sich schon bewusst als Differenz zwischen Gott als Weltprinzip und der unvollständigen Erkenntnis des Menschen von Gott und der Natur. Insofern die Menschen von Gott als Vernunft wissen, haben sie ein Selbstbewusstsein, aber sie wissen nicht, dass es ihre Vernunft ist,  so ist ihnen ihr Selbstbewusstsein ein fremdes. Als noch fremdes Selbstbewusstsein des Menschen gibt Gott die Gebote des Handelns. Dieses fremde Selbstbewusstsein des Menschen entwickelt sich für den Menschen aus den Erfahrungen der Geschichte der Israeliten. Die Deuter dieser historischen Erfahrung sind zuerst die Weisen, dann Propheten und Priester, schließlich auf deren Schriften aufbauend die Schriftgelehrten. Sie interpretieren die historischen Erfahrungen, indem sie versuchen, das Allgemeine darin, zu erkennen. Ist dieses zwar aus empirischen Erfahrungen gewonnen, so wird es doch als Offenbarung Gottes und damit eines metaphysischen Allgemeinen vorgestellt. Da sich das menschliche Selbstbewusstsein noch fremd ist, teilweise seine Kräfte nur in mythologischer Form kennt (z.B. ist die göttliche Weltschöpfung als creatio ex nihilo mythologischer Ausdruck der Schöpferkraft des Menschen), ist auch die Begründungsweise, mit denen Handlungsprinzipien gegeben werden, noch teils dunkel, teils mythologisch, bestenfalls pragmatisch vorhanden. Obwohl das logische Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs bereits die einzelnen Autoren implizit prägt, ist der Sammelcharakter der Tora insgesamt nicht überwunden und damit nicht die offensichtlichen Widersprüche zwischen den Textteilen. Die Begründungen, die ich für die einzelnen Gebote gebe, sind zwar implizit herauslesbar bzw. aus der Historie ableitbar, aber nicht explizit formuliert. Insgesamt verbleibt die alttestamentliche Moral noch im Mythologischen, auch wenn die Mythologie in sich selbst aufklärerische Momente entwickelt und vor allem die Tendenz zum Monotheismus ein Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit darstellt.

  Der Dekalog (Zehn-Wort) entsteht im Zusammenhang mit der größten Krise des israelischen Volkes vor der Diaspora, der Exilzeit.( 14 )  Der letzte israelische Staat Judäa ist von der Großmacht Babylon endgültig besiegt, hat seine Staatlichkeit eingebüßt; seine Oberschicht ist nach Babylon ins Exil verschleppt, die Zurückbleibenden passen sich der neuen Herrschaft an und verehren deren Götter, fremde Volksgruppen wandern ein, besetzen das freigewordene Land und vermischen sich mit den zurückgebliebenen Israeliten; statt nach Recht und Sitte friedlich zusammenzuleben, können die meisten nur überleben, wenn sie alle bisherigen Regeln missachten; dadurch wird die alte Sitte gänzlich zerstört, ihr wichtigster Grundsatz, die Gemeinschaftstreue, ist bedeutungslos,  wenn sich jede Art Gemeinschaft auflöst. In dieser historischen Situation bleibt nur die Hoffnung auf Rückkehr und Neuanfang, sie wird für die Priester und Propheten der Anlass, eine neue Ordnung für das zukünftige Reich zu entwickeln. Auch wenn diese Ordnung zum Teil utopische Züge trägt, wie z.B. die geplante Neuaufteilung des  Bodens, nach der jede Familie den gleichen Anteil bekommen sollte, wird doch auf der Basis der alten Sitten und des alten Rechts eine neue realitätstüchtige Ordnung konzipiert. In diesem Zusammenhang entstehen die Zehn Gebote, sie drücken die Einsicht aus, dass Recht und Sitte nicht mehr ausreichen, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu gewährleisten, sondern dazu eine individuelle Anstrengung des Einzelnen notwendig ist. Die Krise des Exils hat die Einheitsvorstellung von Gesellschaft und Individuum, die bisher schon einen moralischen Kraftakt zu ihrer Realisierung bedurfte, um bestehen zu können, zerstört. „Der Einzelne sieht sich mehr und mehr auf sich selbst gestellt“ (13), er wird zum Subjekt seiner Handlungen. Galt früher eine Strafe bis zum 4. Glied der Nachkommen, weil vier Generationen in einer Familie lebten und der Einzelne nur Teil seiner Familie war, so gilt nun: „Nur wer sündigt, soll sterben. Ein Sohn soll nicht die Schuld seines Vaters tragen und ein Vater nicht die Schuld seines Sohnes.“ (Ez 18, 20)  Zwar geht der Dekalog noch nicht so weit bei der Individualisierung, Gott bestraft seine Feinde weiterhin bis zur vierten Generation (Ex 140,5), also die ganze Sippe, dennoch ist auch hier die Rolle des Einzelnen schon dadurch hervorgehoben, dass er durchgehend mit ‚du sollst’ angesprochen wird. Dass es im Dekalog genuin um Moral geht und nicht um Wiederholungen von Rechtsvorschriften etwa des verwandten „Bundesbuches“ (Ex 20,22 - 31,118), wird an der sprachlichen Form offensichtlich: es werden keine Verbote mit entsprechender weltlicher Strafandrohung ausgesprochen, sondern die Gebote appellieren an den Einzelnen, dessen Fehlverhalten sie verhindern wollen. Damit wird auf eine Verinnerlichung gesellschaftlicher Regeln insistiert, die im zehnten Gebot explizit formuliert ist. Appellierende Gebote und ihre Verinnerlichung sind aber nur denkbar unter der Voraussetzung, dass der Einzelne für seine Handlungen voll verantwortlich ist - eine entscheidende Bedingung von Moral. Es geht um moralische Appelle, die vor einer möglichen Fehlhandlung erfolgen oder um positive Aufforderungen, die ein Handeln verlangen, das nicht justiziabel ist wie die Sorge für die Eltern (siehe fünftes Gebot). Auch die metaphysische Absicherung der Gebote, indem sie als Gebote Gottes und nicht als pragmatische menschliche Weisheit ausgegeben werden, ist ein Indiz für die versuchte Moralisierung menschlicher Beziehungen. Denn Gott sieht auch die heimlich begangenen Sünden und fehlgeleiteten Absichten, im Gegensatz zur menschlichen Justiz, die nur äußerliche und offensichtliche Handlungen beurteilen kann. Im einzelnen sind die Gebote aus früheren konkreten Vorschriften hervorgegangen, so ist z.B. das rechtliche Verbot, keinen Menschen zu stehlen, auch auf Sachen ausgedehnt und dadurch universalisiert worden zu: „Du sollst nicht stehlen.“  Im zehnten Gebot ist diese Universalisierung selbst vorgeführt. Weitere entscheidende Neuerungen sind die Systematisierung und die Zehnzahl, obwohl die Form noch additiv ist und erst später und unterschiedlich nach der Zehnzahl gegliedert  und katechisiert wurde. Allerdings wird im Deuteronomium bereits von „Zehn Worten“ (10,4) gesprochen. „Dem sprachlich-historischen Befund wird am ehesten die Zählung des Fremdgötterverbots als 1., des Bilderverbots als 2. Gebot gerecht.“ (15)  Die anderen Gebote ergeben sich dann zwangsläufig, wenn man eine Zehnzahl zugrunde legt.

 

Der Dekalog im Überblick:

Gott in Ich-Form 1.   Verbot fremder Göttern Negatives Gebot Theologisches Gebot
Gott in Ich-Form 2.   Bilderverbot Negatives Gebot Theologisches Gebot
Gott in Er-Form 3.   Namensmissbrauch Negatives Gebot Theologisches Gebot
Gott in Er-Form 4.   Sabbatgebot     Positives Gebot Theologisches Gebot
   5.   Elterngebot     Positives Gebot Profanes Gebot
Kurzprohibitiv 6.  Tötungsgebot Negatives Gebot Profanes Gebot
Kurzprohibitiv 7.   Ehebruchsverbot Negatives Gebot Profanes Gebot
Kurzprohibitiv 8.   Diebstahlsverbot Negatives Gebot Profanes Gebot
Kurzprohibitiv 9.   Lügenzeugnisverbot Negatives Gebot Profanes Gebot
Kurzprohibitiv 10. Begehrungsverbot Negatives Gebot Profanes Gebot

 

Diese formale Gliederung der Gebote hat auch einen inneren systematischen Zusammenhang, der bei der inhaltliche Erörterung dargestellt wird, wobei die rhetorische Abfolge (nach Wichtigkeit) und die logische (begründende) Ableitung noch ungeschieden sind. Zumindest drückt die Zehnzahl die didaktische Absicht aus, einige wichtige Minimalregeln des Zusammenlebens der israelitischen Gesellschaft zu geben, die für jedermann einprägbar sind. Sie ist aber kein Kanon aller Moral oder gar Ausdruck der Grundregeln, die das Naturrecht darstellen sollen. Auch sind die Zehn Gebote nicht mit mathematischen Axiomen vergleichbar, als ob man aus ihnen ein ethisches System konstruieren könnte. (16)  Meine These ist, dass der Dekalog notwendige Regeln einer Moral darstellt, vor allem die profanen Gebote, die zur ideellen Existenzbedingung der Herrschaftsordnung der Israeliten gehören. Nur wenn diese Gebote massenwirksam befolgt werden, kann die israelitische Gesellschaft mit ihrer Herrschaftsordnung neu gegründet werden, so dass sie dauerhaft auf dem damaligen Stand der Produktionsverhältnisse existieren kann. Dementsprechend ist der Adressat dieser Gebote vorwiegend der landbesitzende freie Vollbürger als Träger der Ordnung. Er wird auch direkt angesprochen, wenn gesagt wird, am Sabbat „darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinem Stadtbereich Wohnrecht hat“ (Ex 20, 10).  Eröffnet wird das kurze Kapitel 20 des Buches „Exodus“, das die Zehn Gebote enthält, mit einem Prolog, in dem Gott als Befreier der Israeliten aus dem „Sklavenhaus“  Ägypten dargestellt wird, eine Tat Gottes, die Hauptinhalt dieses viel älteren Geschichtsbuches „Exodus“ ist. Der folgende Dekalog ist danach die ideelle Bedingung, die von Gott erhaltene Freiheit zu bewahren. „Auf eigenem Lande zu wohnen, dessen Reichtum zu genießen, von Sklaverei und Fronarbeit frei zu sein - das steht hinter der Chiffre von der Herausführung aus dem Sklavenhaus.“ (17)  Da Gott den Menschen noch fremde menschliche Vernunft ist, wird er zum fremden Befreier und Geber der Gebote, welche die einmal erreichte Freiheit bewahren helfen sollen. Es sind aber die Menschen selbst, die sich einen bestimmten Stand der Freiheit errungen haben, aber sie wissen es nicht, sondern schieben ihr Wissen der personifizierten Gestalt ihrer Vernunft zu. Da ein solcher Gott aber nicht ohne weiteres einsichtig ist, muss folglich das erste Gebot der Absicherung dieses Gottes dienen, der die Grundlage (Geber) aller folgenden Gebote ist.

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4.   Die Gebote im einzelnen

 Das 1. Gebot:

„Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.“ (Ex 20,3)

Jede Verehrung und Anerkennung anderer Götter wird verboten, obwohl die Existenz anderer Götter damit vorausgesetzt wird, also kein Monotheismus vorliegt. Der Gott, der den israelitischen Vollbürgern die Freiheit brachte, bleibt die Bedingung der Erhaltung dieser Freiheit; er darf deswegen nicht entehrt werden, indem man von ihm abfällt. Im Gegensatz zu den polytheistischen Göttern, die eine gewisse Toleranz bei der Verehrung anderer Götter gestatteten, bezeichnet sich Jhwh selbst als einen „eifersüchtigen Gott“ (Ex 20,5). Dieser Alleinvertretungsanspruch ist in der Vereinheitlichung aller Lebensbereiche durch ihre Theologisierung begründet. Die Theologisierung in Richtung des Monotheismus korrespondiert zugleich mit einer Entzauberung der Welt. Dadurch gelangen die Priester zu einer Rationalisierung des Weltverständnisses in der Bedeutung der Vereinheitlichung des Denkens und seiner Konzeptionen, ohne dass der Schritt zur selbstbewussten Rationalität wie bei den Griechen gegangen wird. Vereinheitlichung bedeutet dann auch, die Gebote an der Widerspruchsfreiheit zu orientieren, ohne dieses Prinzip bewusst auszusprechen. Wie die menschliche Vernunft eine gewisse Freiheit haben muss, wenn sie die Handlungen mit den Geboten wahrhaftig überprüfen will, so muss auch die fremde Gestalt dieser Vernunft als frei bestimmt werden, wenn sie die Schuld der Menschen abwägt. Diese Freiheit Gottes kehrt das Verhältnis des Menschen zu den Göttergestalten der vorgängigen Mythologie um: Diese „Götter sind darin Funktion des menschlichen Wunsches nach gelingendem Leben. Das Gebot der Alleinvertretung Gottes durchschlägt diese Wunschprojektionen, die die Religion im Dienste vorfindlicher Interessen des Menschen funktionalisiert, und kehrt das Begründungsverhältnis um: Gott soll nicht verehrt werden, weil der Mensch leben will und Gott also braucht, sondern weil Gott Gott ist, will er von den Menschen anerkannt und verehrt werden – allein um der Gottheit Gottes willen.“ (18)  Diese Selbstzweckhaftigkeit Gottes ist die Voraussetzung dafür, dass der Mensch nicht nur befangen ist in dem undurchschaubaren Miteinander und Gegeneinander der Triebe, Bedürfnisse und Interessen, sondern sich als moralisches Wesen begreift, das auch Selbstzweck sein kann, indem es die anderen Vollbürger als Selbstzweck anerkennt. Gott ist der Urheber von Geboten, die soziale Konflikte schlichten oder gar verhindern sollen, er kann deshalb nicht selbst Partei in diesen Konflikten sein, er muss diesen gegenüber transzendent bleiben. Da Gott nicht nur fremde menschliche Vernunft ist, sonder zugleich personifizierte allgemeine Naturmacht, wird diese immanente Transzendenz zur Transzendenz gegenüber der Welt gesteigert. Als transzendenter Gott braucht er innerweltliche Vollstrecker seines Wollens; entsprechend wird die Übertretung des ersten Gebots nicht nur durch die Drohung, Gott werde diese Sünde vergelten, abgesichert, sondern auch durch die weltliche Gerichtsbarkeit Israels bestraft (vgl. Dtn 17, 2-7). Diese doppelte Absicherung ist beim ersten Gebot besonders nötig, weil mit dessen Verletzung nicht nur ein Sakrileg begangen, nicht nur eine Rechtsbestimmung übertreten, sondern die ganze Rechtsordnung negiert, ihrer Grundlage beraubt würde.

 

Der Sonnengott Aton wurde von dem Pharao Echnaton (hier mit Frau und Tochter) um 1364 v.u.Z. zur alleinigen Gottheit erklärt. Die Priesterschaft rächte sich nach seinem Tod und tötete einige Mitglieder seiner Familie. 

 

  Interpretiert man die Geschichte des menschlichen Geistes von seinen religiösen Anfängen bis zu den avanciertesten Gestalten heutiger Philosophie als Entwicklung zum wahren Denken, dann ist mit diesem Gebot die dianoetische Tugend ausgesprochen worden, der Vernunft die Treue zu halten, kein Sacreficium intellectus zu begehen. Das ist der rationale Gehalt des ersten Gebotes. Angesicht der Korrumpierung des menschlichen Geistes durch Ideologien und die Bewusstseinsindustrie ist dieser Gehalt aktueller denn je. Die Schranke des ersten Gebotes liegt in seiner religiösen Form: Wird eine neue Gestalt des Denkens entwickelt, dann kann aufgrund des mangelnden rationalen Selbstbewusstseins die alte Gestalt der Möglichkeit nach nicht durch Kritik abgelegt werden, sondern allein durch Krieg. Heteronome Moral ist grundsätzlich nicht veränderbar - auch wenn sich die Lebensverhältnisse ändern -, ohne diese Gestalt des Bewusstsein mit Gewalt zu stürzen. (Gewalt ist auch zu ihrer Einführung nötig, siehe unten.) Einige Propheten haben ihre neuen Vorstellungen denn auch mit Gefängnis und Tod bezahlt. Die menschliche Vernunft ist noch nicht bei sich selbst, sondern hängt quasi noch am Naturzustand.

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Das 2. Gebot:

 

„Du sollst dir kein Gottesbildnis machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.“ (Ex 20,4)

  Als das erste Gebot einschließlich Begründung wird gesagt: „Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld.“ (Ex 20, 5-6)

  Gott gibt Prinzipien, denn die Gebote haben die logische Form von Prinzipien. Sie sind ein „Erstes“ vor allen Handlungen. Prinzipien sind aber nicht mehr anschaulich, sondern allgemein geltend und damit geistige Gebilde. Folglich kann auch der Gott, der sie gibt, nicht mehr anschaulich sein. Die durch Prinzipien gewonnene Distanz zur unmittelbaren Wirklichkeit verschafft den Menschen ein Stück Freiheit ihr gegenüber, die zur Freiheit Gottes stilisiert wird. Freiheit und Geist aber sind nicht abbildbar. Das Bilderverbot folgt also konsequent aus der Transzendenz Gottes, auch wenn im Alten Testament dieses zweite Gebot unvermittelt an das erst angereiht wird. Jhwh kann nicht in seiner Schöpfung aufgehen, sonst wäre er nur ein Teil von ihr, nicht aber ihr Schöpfer. Gelten Prinzipien für alle möglichen Fälle, die sich unter sie subsumieren lassen, dann sind sie tendenziell unendlich, also muss auch das sie gebende Vermögen diese Unendlichkeit haben. Jhwh als unendlicher kann nicht durch Endliches wie die anschaulichen Götter der israelitischen Umwelt dargestellt werden. Das Bilderverbot sichert die Transzendenz Gottes ab und damit auch seine Unverfügbarkeit für den Menschen. Alles Materielle und deshalb Anschauliche ist mehr oder weniger für die partikularen Interessen der Menschen verfügbar, so auch die Vergegenständlichung eines Gottes. Nur über einen konsequent transzendenten Gott als Ausdruck kollektiver Vernunft kann der einzelne Mensch nicht verfügen. (Allerdings deutet der Zusatz über Himmel, Erde, Wasser auch auf das Verbot der naturwissenschaftlichen Forschung hin!)  Wie Gott heilig (unantastbar) ist, so sind es auch seine Gebote, ob sie in der empirischen Welt befolgt werden oder nicht. Diese notwendige Konstruktion moralischer Prinzipien enthält die unreflektierte Aporie, dass diese Prinzipien nur als unbedingte in der Praxis wirksam werden können, obwohl sie doch aus dem Interesse an dieser Praxis ihr Entstehung durch die Priester verdanken, also bedingt sind. (Selbst in der Kantischen Philosophie ist diese Aporie noch nicht ausreichend reflektiert.)

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Das 3. Gebot:

 

„Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen; denn der Herr läßt den nicht ungestraft, der seinen Namen mißbraucht.“ (Ex 20,7)

  Dieses Gebot soll den Umgang mit Jhwh absichern: Sein Name soll nicht beim Fluchen, bei Zauberei, Gotteslästerung, falschen Gelübden und falscher Prophetie missbraucht werden. Ursprünglich ist wohl das falsche Schwören entscheidend gewesen. Diese Absicherung des assertorischen Eids (19) wird im dritten Gebot ausgeweitet und jede Art, den Namen zu missbrauchen, verboten. Entsprechend der naiven Ontologie, die dem Alten Testament zu Grunde liegt, sind Namen nicht „Schall und Rauch“ wie später im Nominalismus, sondern der Name drückt das Wesen der Sache aus bzw. ist es selbst, sein Missbrauch greift direkt diese Sache an. Mit diesem Gebot soll ebenfalls die Stellung des Gottes als Gesetzgeber und Garant dafür, dass die Gebote und Gesetze durchführbar sind, abgesichert werden. Diese Absicherung wird durch die Strafdrohung bekräftigt, nach der Gott denen nicht vergibt, die seinen Namen missbraucht haben (Ex 20,7). Gott erscheint damit als eine äußere Gestalt des menschlichen Gewissens. Der Gehalt des dritten Gebotes besteht in der Veräußerlichung des Gewissens, für das es noch keinen Begriff gibt.

  Bestehen in einer Gesellschaft wie in der der Israeliten Antagonismen, die durch moralische Gebote nicht beseitigt, aber stillgestellt werden sollen, damit sie sich nicht gesellschaftszerstörend auswirken, dann bedarf es einer über den antagonistischen Kräften stehende Instanz, welche die Einhaltung der Gebote garantiert. Im Verbot, den Namen Gottes zu missbrauchen, wird diese Instanz praktisch. Konnte ein Rechtsfall nicht gelöst werden aus Mangel an Beweisen und Zeugen, dann konnte sich der Angeklagte durch einen Eid vor dem Heiligtum rein sprechen lassen, so dass er als unschuldig galt. Kommt es zum Streitfall, etwa zwischen einem armen Bauern und einem Großgrundbesitzer um ein Stück Jungvieh, dessen Zugehörigkeit strittig ist, weil es keine offensichtlichen Beweise gibt, dann kann ein Eid vor Jhwh eventuell den Streit schlichten, wenn der Großgrundbesitzer, bei dem das Tier ist, etwa schwört, dass das Tier tatsächlich von seiner Herde abstammt. Schwört er einen Meineid, dann trifft ihn der Fluch Jhwhs, ohne dass seine gesellschaftliche Stellung und Macht ihn schützen könnte. Der gesellschaftliche Antagonismus reproduziert sich im Verhältnis von Jhwh und den Meineidigen, der vor ihn falsch geschworen hat. Voraussetzung dafür, dass eine externe Instanz das Gemüt des Schwörenden in Furcht hält, damit er keinen Meineid schwört, also der soziale Antagonismus stillgestellt wird mittels Moral und Recht, ist der Glaube an Jhwh, also die Einhaltung des ersten Gebots. Zugleich sichert das dritte Gebot auch die Kohärenz des Kollektivs der Herrschenden bzw. des herrschenden Standes bzw. der Oberschicht ab. (20)  Denn ohne beschworenen Zusammenhalt etwa der Krieger und Beamten in ihrer Treue zum König ist es unmöglich, den Staat einer antagonistischen Gesellschaft zusammenzuhalten und zu verteidigen. Da die Zugehörigkeit der Herrschenden zu ihrem Stand nur gesichert ist, wenn seine Kohärenz gewährleistet ist, haben sie auch ein, wenn auch langfristiges, individuelles Interesse daran, die Eide einzuhalten. Da andererseits die Konkurrenz um das zu verteilende Mehrprodukt dazu anreizt, Vereinbarungen zu brechen, ist die religiöse Absicherung des Eides notwendig, sie wird in den Mindestkanon der Regeln aufgenommen, ohne die keine Herrschaftsordnung seitdem auf Dauer bestehen kann.

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Das 4. Gebot:

 

„Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinem Stadtbereich Wohnrecht hat.“ (Ex 20, 8-10)

  Das vierte Gebot wird mythologisch begründet: „Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt.“ (Ex 20, 11)  Neben dem Elterngebot gehört das Sabbatgebot zu den beiden positiv formulierten Geboten: Es wird nicht verboten, sondern etwas Konkretes geboten. Angesichts der Exilzeit, in der das Zentralheiligtum, der Tempel in Jerusalem, zerstört war, musste der Kult auf andere Art repräsentiert werden. Die Priester erfanden dazu den Sabbat, der privilegrechtlich abgesicherte wurde, d.h. durch Rechtsbestimmungen, die Aussonderungen für Jhwh anordnen mit dem Ziel, diese Aussonderung der direkten Herrschaft Gottes zu unterstellen (wie z.B. auch den Zehnten zur Versorgung der Leviten (Priester)). Sein theologischer Gehalt besteht in der Selbstvergewisserung des Kultes und daraus folgend die religiöse, also heteronome Absicherung der moralischen Gebote und des Rechts. Indem die Menschen einschließlich der Frauen, Kinder, Sklaven und Fremden nicht arbeiten, haben sie die Muße, die Gebote und ihre mythologische Begründung sich zu vergegenwärtigen. Praktisch geschah dies durch das regelmäßige Vorlesen der Schriften. Insofern die religiöse Einübung die einer Moral ist, die eine Herrschaftsordnung absichert, dient auch der Sabbat zur Festigung dieser Ordnung. Die Muße und die dadurch ermöglichte Ausbildung des Denkens erlauben aber auch, die individuelle Emanzipation von Fesselung an das Unmittelbare zu fördern. Mit der Einbeziehung der Sklaven wird in diesem Gebot die Universalität der Moral erkennbar (siehe auch zum 8. Gebot). Durch die Einhaltung dieses Gebots hat die gesamte Gesellschaft eine Freiheit gegenüber der Natur und den Notwendigkeiten des Überlebens in ihr erreicht, wie sie bis dahin nur den sozial Privilegierten möglich war. Wie schwer der alltägliche Überlebenskampf für die kleinen Bauern war, beschreibt Gen 3,17 ff. Einen Tag nicht zu arbeiten, sondern zu ruhen, um die Schriften zu hören, war ein großes ökonomisches Opfer, aber zugleich Ausdruck errungener Freiheit. Denn die Produktivkräfte mussten zumindest ein derartiges Niveau erreicht haben, dass ohne Schaden die ganze Gesellschaft einen Ruhetag einlegen konnte. „Die geforderte Ruhe ist das praktizierte Gegenteil von Sklavenarbeit. So geht es in diesem Gebot, liest man es vom Prolog her, um die exemplarische Wahrnehmung und Praktizierung des von Jhwh geschenkten Status der Freiheit, in dem sich die Angeredeten befinden.“ (21)

   

Anmerkung zur Nächstenliebe

  Obwohl explizit die „Nächstenliebe“, d.h. die Solidarität mit dem in Not geratenen Nächsten, im Dekalog fehlt, wird sie im Sabbatgebot dennoch angedeutet, indem auch Sklaven und Fremde, ja sogar Vieh einbezogen werden in die Arbeitsruhe. Bei Anerkennung der sozialen Differenzierung in Arme und Reiche, Herrn und Sklaven soll die darin enthaltene Sprengkraft gemildert werden. So knüpft zeitlich und inhaltlich Lev 19, 1-37 an den Dekalog an und ergänzt ihn (22).

  (V 17)  „Du sollst dich nicht rächen, und du sollst nicht nachtragend sein mit deinen Mitbürgern. Vielmehr sollst du deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin Jhwh.“

  Dieses Gebot wird auch auf die Fremden übertragen:

  (V 34)  „Wie ein Einheimischer von euch soll für euch der Fremde sein, der sich bei euch aufhält. Du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn Fremde wart ich im Lande Ägypten. Ich, Jhwh, bin euer Gott.“

  Liebe meint hier etwas Praktisches, dem anderen zu essen und zu trinken geben, ihn Unterkunft gewähren, den Armen ein Almosen überlassen. Dass die Israeliten selbst einmal Fremde waren, reicht als Begründung nicht aus, denn andererseits haben sie bei der Landnahme ganze Städte ausgerottet oder die Bevölkerung vertrieben. Entscheidend ist die Milderung der sozialen Spannungen. Da es am klaren Bewusstsein der Ursachen dieser Spannungen fehlt und das Interessenkalkül des Einzelnen zur Feindesliebe nicht ansprechbar ist (23), kann solch ein Gebot nur durch die Autorität Gottes legitimiert werden. Insgesamt gehört es wohl zu den utopischen Momenten dieser Moral. Dass diese Gebote u.a. nicht in den Dekalog aufgenommen wurden, mag daran liegen, dass sie keine notwendigen ideellen Existenzbedingungen der Herrschaftsordnung sind, sondern diese nur raffinieren.

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Das 5. Gebot:

 

„Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.“ (Ex 20,12)

„Ehren“ bedeutet: „Beilegen von Gewicht durch Anerkennung“ (24), es ist immer auch praktisch zu verstehen, nicht nur als geistige Anerkennung. Es ist das erste der profanen Gebote, durch seine positive Formulierung und auf Grund seiner Mittelstellung ist es das zentrale Gebot auch von seiner Bedeutung her. Die positive Formulierung hat die Absicht, das Recht zu internalisieren, die Begründung soll überzeugen und die Einsicht befördern. Unmittelbar fordert es die Autorität der Eltern, voran die des Vaters, zu respektieren. Es schützt die Rechtsautorität des pater familias.  Die Frau wird anerkannt, insofern sie Mutter ist, also ihre biologische Rolle erfüllt hat. Nicht unwesentlich ist auch die bei ihr (und dem Vater) lebensgeschichtlich akkumulierte Erfahrung. Grundlage der individuellen Existenz ist in Krisenzeiten mehr denn je die Familie, die durch den Vater repräsentiert wird. Seine Autorität, die an das Erbland gekoppelt ist, hält sie zusammen, und er vertritt sie nach außen. Wird seine Autorität zerstört, kann das zum Zerbrechen der Familie führen, so dass auch die Existenz des Zerstörers dieser Autorität, wenn er aus der Familie kommt, gefährdet ist; er wird nicht lange leben auf seinem Land, wie das Gebot bei Nichtbefolgung zu recht warnt. Darin eingeschlossen ist die Versorgung der Eltern, wenn sie alt und krank geworden sind. Denn die Familie ist die einzige Stütze, die der Einzelne hat. Versorgen die Kinder nicht ihre Eltern, so verkürzen sie deren Leben, schneiden sich von den in diesen akkumulierten Erfahrungen ab und geben ihren Kindern ein schlechtes Beispiel, so dass auch sie später, wenn sie alt und krank sind, nicht versorgt werden und vorzeitig sterben. Es wäre aber falsch, mit Crüsemann zu meinen, dass „der Kernpunkt die Frage der Altersversorgung“ (24)  sei, weil die Versorgung der Alten oft und vielfältig gefährdet war. Auch wenn das Wort „ehren“ etwas Praktisches bedeutet und nicht ein bloßes Gefühl oder bloße Worte, so ist es doch allgemein formuliert, nicht auf die Versorgung beschränkt, auch wenn diese enthalten ist. Es wendet sich dagegen, dass die Eltern geschlagen (Ex 21,15), verflucht (Ex 21,17), verachtet (Ez 22,7) verspottet (Prov 30,17) oder beraubt (Pro 19,26) werden. Das aber sind Vergehen, die jede Autorität, sei es die des Gerichts, der Ältesten, der Beamten oder schließlich die des Königs zerstören würden. Entsprechend ist dieses Gebot auch als Sicherung der gesellschaftlichen Autoritäten außerhalb der Familie zu interpretieren, die nur den Staat und die Herrschaftsordnung aufrechterhalten können, wenn ihnen Achtung gezollt wird. Versagt man ihnen die Ehre, so muss der Staat zusammenbrechen wie in der Exilzeit und mit ihm die Sicherheit der Familien und der Einzelnen in ihr, so dass hierbei die angedrohte Konsequenz aus der Nichtbefolgung des Gebotes gilt: das Leben wird verkürzt. Wie im Dekalog die Autorität der Eltern zentral steht, so in dem deuteronomischen Verfassungsentwurf, der analog aufgebaut ist, die Ämterverfassung, also die Autorität des Staates. (25)  „Ein Mann aber, der so vermessen ist, auf den Priester, der dort steht, um vor dem Herrn, deinem Gott, Dienst zu tun, oder auf den Richter nicht zu hören, dieser Mann soll sterben.“ (Dtr 17, 12)  Die Achtung der gesellschaftlichen Autoritäten ist die Grundlage des Zusammenlebens in antagonistischen Gesellschaften, deshalb hat der Endredakteur des Dekalogs dieses Gebot an die zentrale Stelle gesetzt und zum ersten der profanen Gebote gemacht.

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Das 6. Gebot:

  „Du sollst nicht morden.“ (Ex 20,13)

  „Morden“ bzw. „Töten“, wie man auch übersetzen kann, heißt das ungesetzliche, willkürlich mit Gewalt vollzogene Töten eines Menschen: von der fahrlässigen Tötung über den Totschlag bis zum Mord, bei dem Absicht, niedere Beweggründe und Heimtücke involviert sind. Das Gebot wendet sich auch gegen den Vollzug der Blutrache. Nicht einbezogen ist die gerichtlich angeordnete Todesstrafe und der Krieg mit äußeren Feinden. Durch die Verlagerung des Todesrechts von der Familie zur Ortsgerichtsbarkeit wird nicht nur „die gemeinschaftszerstörende Wirkung der Bluttat“ beachtet, sondern auch die Intention bewertet, so dass zwischen Totschlag und Mord unterschieden werden kann. Das Prinzip der Erfolgshaftung wird durch die Verschuldungshaftung abgelöst, damit konnte auch die Sanktionsgewalt eingeschränkt werden. Das moralische Gebot jedoch bezieht sich gegenüber dem Recht auf alle Tötungsfälle. „Im hebräischen Begriffsspektrum von ‚töten’ wird nicht zwischen vorsätzlicher und unvorsätzlicher Tat geschieden, sondern auf die gemeinschaftszerstörende Wirkung der Bluttat abgehoben. Der Prohibitiv des Dekalogs dient der Verinnerlichung der Norm des Lebensschutzes in der Familie, so wie der todesrechtliche Rechtssatz (Ex 21,12) die Bluttat in der gentilen Rechtsgemeinschaft durch die Generalprävention der Todessanktion zu verhindern sucht.“ (26)  Der Zweck des Gebots ist die elementare Lebenssicherung des Nächsten, auch über die Familie hinaus. Es gilt selbstverständlich für Sklaven, schützt sie aber auch vor der Willkür des Herrn, der sie nicht töten darf, obwohl die Strafe für den Herrn geringer ist, wenn er einen Sklaven tötet als umgekehrt. Als moralisches Gebot gilt es für alle Menschen, ist also universell. Alle Lebensgemeinschaften müssen verhindern, dass ihre Mitglieder sich gegenseitig töten. Aber dafür ein moralisches Gebot aufzustellen, setzt das Überhandnehmen von Morden voraus, ebenso wie permanente Gründe in der Gesellschaft, die Einzelne zum Mord animieren. Eine herrschaftlich verfasste Gesellschaft, die in Arm und Reich gespalten ist, bietet ständig Anreize, selbst über Leichen zu gehen. Hinzu kommt wohl noch der Streit um das Land zwischen den Zurückgebliebenen, meist Arme, die sich das Land angeeignet hatten, und den Heimkehrern aus dem Exil, die der Oberschicht angehörten und ihr früheres Land zurück haben wollten.

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  Das 7. Gebot:

  „Du sollst nicht die Ehe brechen.“ (Ex 20,14)

  Die Sicherung der Genealogie und die Weitergabe des Erblandes als materielle Existenzgrundlage der Familie sind die Zwecke der Ehe. Die Verhinderung des Ehebruchs war also existenzwichtig für die Familie. Die Familie ist patriarchalisch und das Erbrecht patrilinear. Bleibt die Ehe, die immer exogam sein muss, kinderlos, dann kann der Mann eine zweite Frau nehmen. „Der Landbesitz vermittelt den Zusammenhalt der Großfamilie. Löst man den Zusammenhang einer Familie mit ihrem Boden auf, so ist ihr Zusammenhalt und damit ihr Überleben in Frage gestellt. Die Polygamie soll auch den Zusammenhang von Genealogie und Besitz im Erbrecht sichern.“ (27)  Ehebruch bezieht sich also immer auf die verheiratete Frau. Nach dem Recht werden beide Ehebrecher, Mann und verheiratete Frau mit dem Tode bestraft. Die Beziehung eines Ehemannes mit einer Konkubine galt nicht als Ehebruch. Auch die Geschlechtsbeziehung eines Mannes mit einer unverheirateten Frau, die auch noch nicht inchoativ verheiratet ist, d.h., einem anderen Mann noch nicht versprochen ist, galt nicht als Ehebruch, auch wenn der Mann verheiratet ist. Entjungferte er sie, so musste er den Brautpreis bezahlen oder sie heiraten. Dagegen ist jede Geschlechtsbeziehung einer Ehefrau mit einem anderen Mann als den eigenen, ob verheiratet oder nicht, immer Ehebruch und hat bei dessen Aufdeckung ihren Tod zur Folge. Der Grund für diese Unterscheidung liegt ebenfalls in der Aufrechterhaltung der Familie. Eine Ehefrau, die ein Kind von einem fremden Mann zur Welt bringt, gefährdet die Genealogie und damit das Überleben der Großfamilie. Während ein uneheliches Kind, das der Ehemann zeugt, nicht erbberechtigt ist, muss das Kind der Ehefrau als erbberechtigt anerkannt werden, weil auch der Ehemann der Vater sein könnte. Das siebte Gebot soll als moralischer Appell von vornherein diese Art Ehebruch verhindern, trägt also ebenfalls zur Verinnerlichung der Rechtsnormen bei. Dieses Gebot ist am weitesten gebunden an patriarchalische Agrargesellschaften.

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Das 8. Gebot:

  „Du sollst nicht stehlen.“ (Ex 20,15)

  Eine herrschaftlich verfasste Gesellschaft, die sich in Arme und Reiche spaltet, muss dieses Gebot aufstellen. Denn der Besitz ist die materielle Lebensgrundlage der Menschen und die Sphäre ihrer Freiheit. Stiehlt jemand relevante Teile, dann ist die Existenz der Bestohlenen gefährdet. Die Verführung zum Diebstahl ist je größer, je gelockerte die Sitten sind und je weiter die Kluft zwischen den Schichten sich öffnet. Das Gebot ist allgemein formuliert, es gilt für alle Menschen, ob freier Vollbürger, personae miserio oder Sklaven. Trotz dieser universellen Geltung hat Crüsemann die Zehn Gebote als „Standesmoral“ bewertet. „Der Dekalog gilt erwachsenen Männern, die rechts- und kultfähig sind. Sie sind charakterisiert durch Land- und Viehbesitz, also sind es Bauern; sie besitzen Sklaven, also sind es Freie. (...) Der Dekalog gilt also nicht (wie vielfach bei uns) Kindern; er gilt nicht (wie selbstverständlich bei uns) Frauen; er gilt nicht Sklaven; er gilt nicht Lohnarbeitern. Er ist damit zunächst nur für die Männer eines bestimmten Standes in Israel formuliert worden.“ (28)  Da sich die Verteilungskämpfe um Land und Reichtum, die sozialen Differenzierungsprozesse in arme Kleinbauern und reiche Großgrundbesitzer in dem Stand der freien Vollbürger abspielten, habe der Dekalog die Aufgabe, jeden denkbaren Griff nach den Lebensgrundlagen und der Freiheit dieses Standes und damit des gesamten Staates, dessen Träger dieser Stand ist, zu verhindern. Dagegen wendet Otto ein, dass aufgrund der neuartigen Theologie (Bilderverbot, Sabbat) der Dekalog nicht aus dem 8. Jahrhundert stammt, wie Crüsemann unterstellt, sondern aus der Exilzeit (6. Jh. v.u.Z.). Er sei Teil eines Entwurfs für das neue Israel nach der Exilzeit, in der eine Gesellschaft ohne marginale Gruppen gefordert wurde. Der Dekalog gelte also universal und sei keine „Klassenethik“ (29).  Wie immer die Frage um die Entstehungszeit philologisch und theologisch gelöst wird - ich halte Ottos Argumente für stichhaltiger -, das universell formulierte Gebot „Du sollst nicht stehlen“ ist dennoch Ausdruck einer herrschaftssichernden Moral: Es schützt nicht nur den Mantel des Einzelnen oder das Essen, das er gerade in den Mund stecken will. Indem das achte Gebot vor Diebstahl schützen will, also den Besitz bewahren soll, rechtfertigt und sichert es auch eine Ordnung, in der es Reiche und Arme, Herren und Knechte, Sklavenhalter und Sklaven gibt. Wenn ein Sklave oder Tagelöhner mehr produziert, als er an Lebensmitteln zurückbekommt, also für seinen Herren ein Mehrprodukt schafft, dann sichert dieses Gebot auch eine Ordnung ab, in der jene Aneignung des Mehrprodukts ohne Gegenleistung erfolgt, es sichert also Diebstahl an Arbeit der Sklaven und Tagelöhner ab. Dadurch aber widerspricht sich das Gebot selbst. Damit dieser Widerspruch zum Bewusstsein kommt, muss die kostenlose Aneignung des Mehrprodukts für die damaligen Menschen offensichtlich sein. Das war der Fall beim Zinsnehmen, bei dem der Geldverleiher mehr zurück erhielt als er vorgeschossen hatte. Das Zinsnehmen wurde tatsächlich als Diebstahl oder unmoralische Bereicherung erkannt (im Gegensatz zu heutigen Ideologen) und dem entsprechend ein Zinsverbot ausgesprochen: „Du sollst deinem Bruder keinen Zins auferlegen, weder Zins für Geld, noch Zins für Nahrungsmittel, noch Zins für irgend etwas, was man gegen Zins verleiht.“ (Dtn 23,20)   Dass dieses Gebot den Interessen autarker Subsistenzbauern entsprach, dass der ökonomische Fortschritt herrschaftlich verfasster Gesellschaften bald über dieses soziale Gebot hinwegging, es wahrscheinlich nie durchsetzbar war, ändert nichts an seiner moralischen Wahrheit. Dass allerdings Lohn- und Sklavenarbeit ein Mehrprodukt abwirft und deshalb wie Diebstahl ist, wird verschleiert durch das Geben von Leistung (Arbeit) und (wenn auch geringerer) Gegenleistung (z.B. Nahrung).

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Das 9. Gebot:

  „Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.“ (Ex 20,16)

  Das Gebot bedeutet in dieser Allgemeinheit, keine Lüge über andere zu verbreiten, weil jede Lüge die Kommunikation und damit das arbeitsteilige Zusammenleben bedroht. In ursprünglicher und engerer Bedeutung war es aber auf den Gerichtsprozess bezogen. Der Hauptbeweis im Gerichtsverfahren war der Zeugenbeweis. Mit ihm steht und fällt die Gerichtspraxis. Das neunte Gebot soll diese Gerichtspraxis absichern. Dass es in dem Dekalog aufgenommen wurde, ja das es sogar zwei Gebote dieser Art gibt (vgl. 3. Gebot), zeigt den Grad der Korruption im Gerichtsverfahren an. Es war gängige Praxis, Richter und Zeugen zu bestechen. Damit wurden die Gerichtsverfahren ein wichtiges Mittel vieler Großgrundbesitzer, sich Sondervorteile zu verschaffen, den Kleinbauern von seinem Land zu vertreiben oder gar in die Schuldknechtschaft zu zwingen. Zugleich lag es im wohlverstandenen Eigeninteresse der Oberschicht als Ganzer, diese Rechtsbeugung zu unterbinden, weil nicht nur der Rechtsfriede zerstört wurde und damit der Zusammenhalt der Gesellschaft, der ihre Machtgrundlage war, sondern auch durch die Enteignung der Kleinbauern die soziale Basis der Herrschaft abzubröckeln begann.

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Das 10. Gebot:

  „Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, nach seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgend etwas, das deinem Nächsten gehört.“ (Ex 20,17)

  Das hebräische Wort, das hier mit „verlangen“ übersetzt wurde, hat eine vielfältigere Bedeutung als „begehren“ oder „verlangen“. Sie reicht von dem inneren Begehren über das Besitzenwollen bis zur Ausführung der Besitzergreifung. Da es aber auch das Begehren einschließt, wird im zehnten Gebot ausdrücklich auf eine Verinnerlichung der Normen des Zusammenlebens abgezielt. Das Ausgreifen auf die innere Einstellung des Menschen verdeutlicht auch den Übergang vom justitiablen Verbot zum moralischen Appell. (30)  Der Zweck des Gebotes besteht darin, allgemein den Lebensbereich des Nächsten zu schützen, d.h. vor allem den Schutz des Schwächeren vor dem ökonomisch Stärkeren. In der altisraelischen Gesellschaft gab es durchaus legale Möglichkeiten, den Anderen um seinen Besitz zu bringen. „Da ist etwa die Möglichkeit, herrenloses Gut an sich zu bringen und Frauen abwesender Männer - ein Problem besonders von Kriegszeiten (...)  Da sind aber weitere Möglichkeiten, die harmlos mit der Geldleihe beginnen und in der Übernahme des Besitzes enden. Schon das Bundesbuch warnt davor, Geld mit der Absicht zu verleihen, Zugriffsrechte auf Personen des Nächsten zu bekommen.“ (31) Reicht das Recht aber nicht aus, um den Nächsten zu schützen, dann versuchen es die Priester und Propheten, also die Redakteure des Dekalogs, mit moralischen Appellen und deren Verinnerlichung. Denn eine weitere Polarisierung der Gesellschaft musste die soziale Krise verschärfen, die zumindest einer der Gründe für den Untergang des jüdischen Staates war.

  Die Aufzählung einzelner Objekte, die man nicht begehren soll, wird am Schluss des Gebotes universalisiert zu „irgend etwas, das deinen Nächsten gehört“. Die praktischen Gebote, die Mord, Ehebruch, Diebstahl sowie auch die Mittel dazu, das Lügenzeugnis, verhindern sollen, werden in diesem Gebot begründet. Es geht um den Schutz des Nächsten und damit des Zusammenlebens in der sozial differenzierten Gesellschaft. Der diese Gebote einhält, erkennt auch die Autorität der Eltern an, die Träger der Tradierung von Recht und Moral sind. Und schließlich ist die Respektierung der Sphäre des Nächsetn Anerkennung Gottes, dem diese Gebote zu verdanken sind. Derart verstanden ist das zehnte Gebot das praktische Prinzip aller anderen Gebote, es fasst die Verinnerlichung, Universalisierung und den praktischen Zweck aller anderen Gebote zusammen.

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5.   Die Aporien der Dekalogsmoral

   

Der Dekalog insgesamt enthält die wichtigsten moralischen Existenzbedingungen der herrschaftlich verfassten altisraelitischen Gesellschaft sowie ihre theologische Absicherung. Die Entstehung der Moral nach dem Alten Testament hat gezeigt, eine sozialdifferenzierte Gesellschaft auf einem gewissen geistigen - hier theologischem – Niveau kann nicht mehr auf Moral verzichten. Das belegt auch die Entstehung der Moral in Ägypten (etwas früher)  und Griechenland oder völlig unabhängig davon in China, die historisch etwa zur gleichen Zeit erfolgt. „Daß in einer Gesellschaft der Durchbruch zu ‚postkonventionellem’ Denken erfolgen kann, setzt nicht nur eine Hochkultur mit Staat, Schrift, hochgradiger Arbeitsteilung und Bildung voraus, sondern auch ein Reifestadium, in dem sich traditionell bewährte, eingeübte Methoden der Steuerung und Integration als nicht mehr hinreichend erweisen. Ohne eine Herausforderung durch krisenhafte Entwicklungen entsteht keine Nachfrage nach neuen Ordnungsmodellen; ohne eine hochentwickelte Kultur stehen nicht die Mittel zur Verfügung, sie zu erarbeiten.“ (32)  „Die chinesische Moralphilosophie im allgemeinen wie der Konfuzianismus und das Programm seines Begründers im besonderen sind nur zu verstehen, wenn man die Fragen der Zeit kennt, auf die eine Antwort gefunden werden soll. Die Herausforderung, der die chinesischen Philosophen sich stellen, ja, an der sich das philosophische Denken als ein systematisches Hinterfragen überhaupt erst entzündet, ist die Krise der konventionellen Sittlichkeit des alten China.“ (33)  Diese allgemeine Entwicklung zu einer reflektierten Moral differiert nach den geographischen und sozialen Umständen, in denen Menschen sie hervorbringen. Die ökonomisch mehr oder weniger autarken Familien Altisraels können nicht nur durch staatlichen Zwang wie angedrohte Strafen zusammengehalten werden. Wenn die soziale Differenzierung zur Krise sich steigert, ist auch die Reflexion und Verinnerlichung von Normen nötig, die z.T. auf möglicher Einsicht, z.T. auf religiöser Absicherung basiert. Besonders das zehnte Gebot, das auf die Verinnerlichung insistiert, ermöglicht allererst selbständiges Handeln (unabhängig von der Sippe) und Eigenverantwortung für sein Tun.  Durch die in der Moralreflexion und ihrer theologischen Absicherung betriebene Rationalisierung, die zu einer durchdachteren (wenn auch hier noch mythologischen) Moral führt gegenüber der Weisheitsmoral, wird auch die Herrschaft unter rationalere Kriterien gestellt. Die Moral befördert die Verantwortung des Einzelnen, dessen Verselbständigung durch die historische Entwicklung provoziert wurde. Er kann dadurch zu ersten Ansätzen autonomen Handelns gelangen, ohne wirklich autonom werden zu können. Dieser Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit ist durch das Verhaftetsein in der Mythologie noch eng beschränkt, da die menschliche Vernunft sich noch als fremde erfährt, sich in einem Gott personifizieren muss.

  An dem Dekalog lässt sich die Aporie jeder Moral aufzeigen, die Herrschaft absichern will. Moral ist Resultat sozialer Krisen, sie soll auf die Gesellschaft einwirken, um die Krise zu bewältigen. Dadurch aber sichert sie eine Gesellschaft ab, deren innere Dynamik ständig wieder zur Krise treibt, wie z.B. in Israel und in der gesamten Antike die Bodenkonzentration (oder heute die Kapitalakkumulation). Wird die Moral von einer bloßen Standesmoral (was auch für die Weisheitsmoral nicht ganz zutrifft) zu einer universalen, dann enthält sie auch Momente, die über die Absicherung von Herrschaftsverhältnissen hinausgehen, wie z.B. die Universalität der Gebote oder die Nächstenliebe. Indem universale Moralprinzipien jedoch den Zweck haben, soziale Krisen stillzustellen, ohne die institutionalisierte Herrschaft selbst, die solche Krisen verursacht, der Kritik zu unterziehen, befördert sie gerade die Verhältnisse, die ihrem rationalen Gehalt entgegenstehen. So ermöglicht der Schutz des Nächsten, auf den die praktischen Gebote des Dekalogs abzielen, nicht nur dem Prinzip nach einen friedlicheren Umgang miteinander; dieser Schutz bewahrt auch eine Ordnung, zu der wesentlich der Kampf ums Mehrprodukt gehört. (34)  Dies Aporie der gesellschaftlichen Wirkung von Herrschaft affirmierender Moral muss sich auch immanent in der Konstruktion der Moralvorstellungen zeigen.

 

Moral dient der Reduktion der Gewalt und stabilisiert dadurch eine Herrschaftsordnung, die immer wieder Gewalt erzeugt.

 

Gott als Geber und Legitimator der Gebote soll verhindern, dass ein Auseinanderbrechen von Tat und Ergehen für den einzelnen zum Grund wird, die Gebote zu missachten. Sie sind metaphysisch begründet und dadurch unangreifbar durch eine ihr nicht entsprechende empirische Erfahrung. Die Hioberzählung zeigt aber, dass sie dann auch nicht mehr vermittelbar sind, wenn das tatsächliche Leben völlig von ihnen abweicht. Sollen sie nicht bloß der Heiligenschein einer unheiligen Wirklichkeit sein, dann muss es zwischen dem sündigen Leben und den göttlichen Geboten eine Vermittlung geben. Diese theologische Vermittlung sollte der Sühnegedanken leisten, der auf Gottes Gnade beruht. „Die von Gott dem Menschen gnädig eröffnete Möglichkeit der stellvertretenden Sühne unterbricht den Zusammenhang von Tat und Ergehen und gibt dem sündigen Menschen die Möglichkeit weiterzuleben.“ (35)  Die größere Verantwortung des Einzelnen impliziert auch die Chance der Reue und Läuterung, weil er fehlbares Subjekt ist und nicht nur Teil einer objektiven Allgemeinheit. „Wenn der Schuldige sich von allen Sünden, die er getan hat, abwendet, auf alle meine Gesetze achtet und nach Recht und Gerechtigkeit handelt, dann wird er bestimmt am Leben bleiben und nicht sterben“ (Ez 18,21).  Doch dieser Gedanke ist ein fauler Kompromiss: er eröffnet jeder Heuchelei Tür und Tor. Da in der Praxis nur Menschen den Sühneerlass geben können, wird es möglich, unmoralisch zu handeln und doch die Gebote verbal anzuerkennen. (Man belud mit seinen aufgeschriebenen Sünden einen Sündenbock, der dann exemplarisch bestraft wurde, indem er in die Wüste gejagt wurde.) Auch theologisch ist der Sühne- und Gnadengedanke aporetisch. „Das Ziel theologischer Normenlegitimation wird in Frage gestellt, wenn nicht vom Tun des Menschen, sondern unabhängig davon an die Sühneinstitution das Überleben des Menschen gebunden wird. Die Differenzierung zwischen läßlichen Sünden, die gesühnt werden können, und unsühnbaren Kapitalverbrechen will dieser Problematik entgehen, doch ist damit nur erreicht, daß der Heilswille Gottes durch das Tun des Menschen eingeschränkt wird und umgekehrt der Zustand von Tat und Ergehen und damit der zwischen Übeltat und Strafe, Ethos und gelingendem Leben teilweise außer Kraft gesetzt wird.“ (36)  Damit die Aporie zwischen göttlicher Forderung nach Unbedingtheit der Gebote und göttlicher Gnade, die diese Unbedingtheit teilweise aufhebt, nicht geradezu unmoralisches oder illegales Handeln animiert (man denken nur an den mittelalterlichen Ablasshandel), soll die Furcht vor Gottes Fluch den Ernst der Gehorsamsforderung einschärfen. Der Endredakteur des Dekalogs lässt seine literarische Figur Moses bei der Übergabe der Gebote an das Volk mit Gott drohen, um die heteronome Moral abzusichern: „Die Furcht vor ihm soll über euch kommen, damit ihr nicht sündigt.“ (Ex 20,20)  Wer oder was Gott ist, wird von den Propheten und Priestern den Menschen vorgegeben. Sie können ihn nur behaupten, nicht beweisen, weil dafür die rationalen Möglichkeiten fehlen. Warum man Jhwh und nicht Baal anbeten sollte, dafür standen allein die Tradition und die Autorität von Staat und Priesterschaft. Diese waren den Menschen aber nicht erst durch die Exilzeit problematisch geworden. Interpretiert man Gott als Ausdruck menschlicher Vernunft, die zwar in einem fremden Wesen personifiziert ist, das aber doch Vernunft verkörpert, dann muss sich die Wahrheit in der Praxis zeigen. In dem mit dem Dekalog verwandten Deuteronomium lässt der Schreiber Gott sagen: „Einen Mann aber, der nicht auf meine Worte hört, die der Prophet in meinem Namen verkünden wird, ziehe ich selbst zur Rechenschaft.“ (Dtn 18,19)  Damit aber kein falscher Prophet kommt, muss er zugleich warnen: „Und wenn du denkst: Woran können wir ein Wort erkennen, das der Herr nicht gesprochen hat?, dann sollst du wissen: Wenn ein Prophet im Namen des Herrn spricht und sein Wort sich nicht erfüllt und nicht eintrifft, dann ist es ein Wort, das nicht der Herr gesprochen hat. Der Prophet hat sich nur angemaßt, es zu sprechen. Du sollst dich dadurch nicht aus der Fassung bringen lassen.“ (Ex 18,21 f.)  Zur Praxis der herrschaftlich verfassten Gesellschaft gehört allerdings regelmäßig die Kluft zwischen Tat und Ergehen: gute Taten bringen oft Nachteile im Leben, böse Taten oft Erfolge und Wohlergehen. Die heteronome Moral des Dekalogs, die der Prophet verkündet, musste  an der Praxis scheitern, und die Leute bräuchten sich wegen dieser Gebote „nicht aus der Fassung bringen lassen“. Damit dies nicht geschieht, da die Gesellschaft eine Moral benötigt, muss sie durch das Mittel abgesichert werden, das sie einschränken wollte - die Gewalt. Will man moralische Prinzipien als bindend propagieren, obwohl sie heteronom und daher letztlich nicht einsichtig zu machen sind, dann bleibt nur die objektive Seite der Furcht - der wirkliche Terror. Als Moses vom Berg Gottes  mit den zehn Geboten kommt und sieht, dass sein Volk um das goldenen Kalb tanzt, also das erste Gebot, die Grundlage aller anderen Gebote, gebrochen hat, befiehlt er seinem Stamm: „So spricht der Herr, der Gott Israels: Jeder lege sein Schwert an. Zieht durch das Lager von Tor zu Tor! Jeder erschlage seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nächsten. Die Leviten taten, was Mose gesagt hatte. Vom Volk fielen an jenem Tag gegen dreitausend Mann.“ (Ex 32, 27 f.)

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Anmerkungen

  1)  Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, S. 149 f.  

2)  Zitiert nach W. F. Sybkowjez, S 13. Wenn Sybkowjez dann allerdings schriebt: „Das bemerkenswerte Phänomen der tasmanischen Sprache unterstützt die Vermutung, daß moralische Bewertungen von Menschen offensichtlich als eine der ältesten Schichten begrifflichen Denkens auftreten“, dann hat er einen weiteren Begriff von Moral als ich, d.h. er schließt auch das ein, was ich „sittlich“ nenne. 

3)  Ebda.; vgl. auch Leakey/Lewin, S. 297.

4)  A.a.O., S. 65.

5)  A.a.O., S. 69.

6)  Aristoteles: Metaphysik, 981 b. Zur Moralentstehung bei den Ägyptern vgl. das Buch von Otto: Theologische Ethik, passim.

7)  Fohrer: Geschichte Israels, S. 73.

8)  Bibellexikon, S. 166.

9)  Alle folgenden Zitate der Weisheitsmoral, wenn nicht anders gekennzeichnet, nach der Übersetzung von Otto: Theologische Ethik, S. 153 ff. Ansonsten wird nach der Einheitsübersetzung zitiert.

10) A.a.O., S. 160.

11) Die folgenden sich widersprechenden Sätze sind nach der Einheitsübersetzung  wiedergegeben.

12) A.a.O., S. 105. Der Begriff des „Rentenkapitalismus“ ist anachronistisch für die gesamte Antike, weil es weder Kapital noch Kapitalismus gab. Gemeint ist die Existenz der städtischen Oberschicht als Rentner ihrer Landgüter. Ein Rentnerdasein aber widersprach der Vorstellung eines Zusammenhangs von Tun und Ergehen, die für die Weisheitsmoral galt.

13) Bibellexikon, S. 166.

14) Vgl. Otto, S. 22.

15) Bibellexikon, S. 105.

16) Crüsemann: Bewahrung der Freiheit, S. 8 ff.

17) A.a.O., S. 37.

18) Vgl. Otto, a.a.O., S. 217.

19) A.a.O., S. 69 f. und 218.

20) Von „herrschender Klasse“ in vorkapitalistischen Gesellschaften zu sprechen, wäre falsch, weil dieser Begriff rein ökonomisch bestimmt ist. Ihn auf die gesamte Geschichte anzuwenden, wäre anachronistisch, denn in vorkapitalistischen Gesellschaften waren soziale Gruppen niemals nur ökonomisch bestimmt, sondern immer auch durch Geburt, Privilegien und institutionelles Ansehen von anderen Bevölkerungsgruppen unterschieden.

21) Crüsemann, a.a.O., S. 58.

22) Otto, a.a.O., S. 244, Übersetzung der Zitate nach Otto.

23) Otto, a.a.O.

24) Crüsemann, a.a.O., 59 f.

25) Vgl. Otto, a.a.O., S. 33 f.

26) Otto, a.a.O., S. 36.

27) A.a.O., S. 50.

28) Crüsemann, a.a.O., S. 28 f.

29) Otto, a.a.O., S. 214.

30) A.a.O., S. 213.

31) Crüsemann, a.a.O., S. 77.

32) Roetz: Chinesische Ethik, S. 59.

33) A.a.O., S. 67.

34) Auch wenn solch eine Kritik in der Antike nur sporadisch geäußert wurde, nicht aber wirksam werden konnte, weil an der Herrschaft der kulturelle Fortschritt hing, ist sie doch in Bezug auf die Gegenwart relevant, weil heute auch ein kultureller Fortschritt ohne Herrschaft real möglich ist.

35) Otto, a.a.O., S. 266.

36) Ebda.

 

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Literaturliste

 

Aristoteles: Metaphysik. In der Übersetzung von Hermann Bonitz. Neu bearbeitet, mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Horst Seidl, Hamburg 1978 (2 Bde.).

Alte Testament, in: Die Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament, Stuttgart 1980.

Assmann, Jan: Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1995.

Bibellexikon. Hrsg. V. Klaus Kooch, Eckhart Otto, Jürgen Roloff und Hans Schmoldt, 4. Auflage, Stuttgart 1987.

Crüsemann, Frank: Bewahrung der Freiheit. Das Thema des Dekalogs in sozialgeschichtlicher Perspektive, Güterslohe 1993.

Fohrer: Geschichte Israels

Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Darmstadt 1984.

Leakey/Lewin: Der Ursprung des Menschen. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel, Ffm. 1993.

Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung. Mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel. Neu bearbeitete und erweiterte Ausgabe. Deutsch herausgegeben von Alfons Deissler und Anton Vögtle in Verbindung mit Johannes M. Nützel, Frankfurt am Main, Wien 1990.

Otto, Eckhart: Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart, Berlin, Köln 1994.

(In weiten Teilen folge ich Otto in seinen theologischen Reflexionen – ohne immer seine Wertungen zu übernehmen.)

Roetz, Heiner: Die chinesische Ethik der Achsenzeit, Ffm. 1992.

Sybkowjez, W.F.: Vom Ursprung der Moral, Berlin 1978.

 

 

Aborigines auf dem Kriegspfad gegen Zerstörer der Sitte

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Stand: 24. Juni 2005