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Rezensionen

 

Inhalt

        Matthias Wiards: Krise im Realsozialismus. Die politische Ökonomie der DDR in den 80. Jahren

        Bodo Gaßmann: Ethik des Widerstandes. Abriß einer materialistischen Moralphilosophie

        Manfred Geier: Kants Welt. Eine Biografie

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Mathias Wiards: Die Krise im Realsozialismus. Die Politische Ökonomie der DDR in den 80er Jahren, Hamburg 2001 (Argument Verlag)

 

Mathias Wiards liefert eine Kritik des "Realsozialismus" am Beispiel der DDR ab, die auf dem avancierten Niveau der Marxschen Kapitalanalyse steht, ohne seine emanzipatorischen Intentionen zu leugnen. Nur so ist diese Problematik zu begreifen, will man nicht in die Apologie des Kapitalismus zurückfallen oder mit realsozialistischer Ideologie die Politik der ehemaligen DDR-Führung a posteriori rechtfertigen.

  Der Autor kritisiert die bisherige DDR-Forschung, nicht, weil sie Fakten verfälscht, sondern diese mit ideologischer Absicht, zumindest aber mit ideologischer Wirkung präsentiert und einordnet. Es fehlt ihr an einer theoretischen Durchdringung des Stoffes, der diesem Gegenstand angemessen ist. Sie beschriebt den "Realsozialismus", d.i. für den Autor Mathias Wiards die "in dem kapitalistischen Weltmarkt eingebundene Planökonomie", die "durch marxistisch leninistische Staatsparteien gestaltet wird" (S. 8), indem sie nicht ihre Funktionsweise, ihre spezifischen Bedingungen und ihren eigenartigen Anspruch untersucht, sondern als "bloße Entwicklung hin zum Zusammenbruch" auffasst (S. 9). Maßstab dieser "Entwicklung" ist dann zwangsläufig immer schon der westliche Kapitalismus, der sich dadurch rechtfertigt. Nach Auffassung der bürgerlichen Ökonomen musste die DDR-Wirtschaft (wie die aller "realsozialistischen" Staaten) scheitern, weil sie nicht nach den Effektivitätskriterien der kapitalistischen Produktionsweise arbeitete. Übersehen wird dabei, dass es nicht das Ziel der realsozialistischen Planwirtschaft war, akkumulierbaren Mehrwert zu produzieren, sondern die Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung, die in der Losung von der "Einheit von Wirtschaft- und Sozialpolitik" zum Ausdruck kommt. "Über die herrschaftstechnische Überlegung hinaus, war die DDR-Führung jedoch mehrheitlich davon überzeugt, daß eine stetig sich verbessernde materielle Versorgung und die Abwesenheit von Not und Existenzkampf wesentliches Kennzeichen eines bereits verwirklichten Sozialismus seien. Die ‚Hauptaufgabe’ war nicht nur Mittel, seltener noch bewußt eingesetztes Mittel, sondern vor allem konstitutiv für das Selbstverständnis der führenden SED-Funktionäre. Als Schürer 1989 immer vehementer auf eine Verminderung der unproduktiven Konsumtion drängte, sahen die anwesenden Politbüromitglieder nicht nur ihre Macht bedroht, sondern ihr persönliches Lebenswerk infragegestellt: ,Wollen wir die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik fortsetzen, oder wollen wir auf einen Parteitag gehen und sagen: Wir müssen Einschränkungen vornehmen?', fragte Harry Tisch. ‚Was sagen wir dann dem Volk, wie treten wir dann dem Volk gegenüber auf?.’ und Egon Krenz äußerte: ‚Es ist für mich gar keine Frage, ob die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik fortgeführt wird. Sie muss fortgeführt werden, denn sie ist ja der Sozialismus in der DDR!’“ (S. 241). Mit dem Zwecke, diesen Anspruch besser zu verwirklichen, öffnete die DDR-Führung ihre Ökonomie (seit den 70 Jahren) verstärkt dem Weltmarkt. Damit aber setzte sie ihre Ökonomie einer Produktivitätskonkurrenz aus, die sie nicht bestehen konnte. Anstatt den emanzipatorischen Unterschied zwischen sinnvollen und unsinnigen Bedürfnissen offen zu erörtern, um zu beschließen, welche Bedürfnisse durch die Produktion befriedigt werden sollen, wurde unkritisch der Konsum der kapitalistischen Metropolen und mit diesem der kapitalistische Begriff produktiver Arbeit übernommen. Ein Wettstreit aber mit der Kapitalproduktion, ohne die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ aufzugeben, also ohne den Konsumniveau zu senken, musste verloren gehen. "Während Ulbricht im Januar 1963 auf dem VI. Parteitag der SED eingestand, die Arbeitsproduktivität liege in der DDR um etwa 25 % niedriger als in der Bundesrepublik, bezifferte Honecker den Rückstand 1982 auf etwa 30 %. ( .. .) In einer Krisenanalyse für die Regierung Krenz im Oktober 1989 bezifferte Schürer den Rückstand in der Produktivkraft insgesamt auf etwa 40 %." (S. 147) Kredite aber müssen in Form von Zinsen bedient werden, was heißt, dass ein immer größerer Teil der Werktätigen der DDR direkt von westlichem Kapital ausgebeutet wurde. Um überhaupt in der Weltmarktkonkurrenz mithalten zu können, musste die Ökonomie des Realsozialismus permanent auf die Steigerung der eigenen Produktivkräfte drängen. Was als "Effektivitätssteigerung", "Materialeinsparung", "bessere Sekundärrohstoffverwertung", "Rationalisierungsinvestitionen", "Interesse an der Gewinnmaximierung" oder als "produktive Akkumulation" bezeichnet wurde, ist aber nichts anderes als der Sachzwang zur Kapitalakkumulation, zur Produktion um der Produktion willen, den der Kapitalismus der realsozialistischen Planökonomie aufherrscht. Die Widersprüchlichkeit einer Planwirtschaft, die sich an den kapitalistischen Weltmarkt bindet, nennt Mathias Wiards den Hybridcharakterdes Realsozialismus. "Es gehört zum Selbstverständnis der DDR, mit der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, die Gebrauchtwertproduktion zum Zweck der Produktion gemacht zu haben. Es wurde bereits gezeigt, daß die realsozialistische Ökonomie zugleich tendenziell am Gewinn ausgerichtet wurde. Ihr Hybridcharakter bestand darin, die Produktion von Produktivität mit ökonomischen Institutionen fördern zu wollen, die in einer Planwirtschaft nicht annähernd so gut funktionieren konnten wie im Kapitalismus: ‚ökonomischen Hebeln’. Krisenerscheinungen in der DDR-Ökonomie sind dadurch bestimmt, daß es nicht gelang, weltmarktfähige Produkte herzustellen, dauerhaft eine positive Außenhandelsbilanz zu erzielen und dauerhaft einen Gewinn aus dem Handel mit den kapitalistischen Ländern zu ziehen, der ausgereicht hätte, die Produktionsanlagen weiterzuentwickeln." (S. 143) Letztlich geht der Hybridcharakter dieses Gesellschaftssystern auf die Stalinsche These vom "Sozialismus in einem Land" zurück, die pluralisiert bis 1989 für den Realsozialismus dogmatisch galt. Diese falsche These, die auch der Marxschen Theorie widerspricht, hat sich mit dem Untergang der realsozialistischen Herrschaftsform auch in der Praxis als falsch erwiesen.

  Was hier nur zusammenfassend (und damit zwangsläufig simplifizierend) dargestellt werden kann, untersucht der Autor in den Erscheinungen der Ökonomie, Politik und der SED-Ideologie im Einzelnen. So geht er u.a. auf die Entwicklung der Mikroelektronik ein, die ein konkurrenzfähiges Produkt für den Weltmarkt produzieren sollte. "Obwohl dieser Aufbau also mit für die DDR sehr großen Anstrengungen betrieben wurde, erreichte die Produktion auch nicht annähernd die Produktivkraft und die Rentabilität der internationalen Konkurrenz. Jeder 1-MB-Chip wurde mit 1135 Mark subventioniert, um ihn immerhin in der DDR und dem restlichen RGW absetzen zu können" (S.174 f.). Die DDR-Ökonomie bedurfte des  "Exports um des Exports willen" (S. 175), denn sonst wäre sie kreditunwürdig geworden, ihr Handel auf den Weltmarkt wäre dann zusammengebrochen, das Konsumniveau der Bevölkerung wäre drastisch gesunken und damit die Legitimationsbasis der SED zerbröckelt, von dem Verlust ihres Selbstverständnisses ganz zu schweigen. Die Ausrichtung am Export untergrub aber gerade die "Errungenschaften", die sie als sozialistische definiert. Daraus ergibt sich das Dilemma der SED-Führung: Anpassung an den Weltmarkt oder Sicherung des Konsumniveaus. "In einer auf Material der SPK (Staatlichen Plankommission, d. Rez.) basierenden Analyse zur ‚Effektivität’, die Mittag und Stoph selbst 1979 vorlegten, wurde demgegenüber ausdrücklich die Umverteilung der vorhandenen Mittel hin zur produktiven Akkumulation gefordert, die Ausweitung der Akkumulation zuungunsten der nicht produzierenden Bereiche, des Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesens, der Kultur und der Erholungseinrichtungen. ( ... ) Obwohl die Einschätzung der SPK, daß der derzeit geringe Umfang und die zu geringe Effektivität der Investitionen zu weitreichenden Problemen führen werde, vom Politbüro geteilt wurde, stießen die vorgeschlagenen Konsequenzen wiederum auf den Widerstand zahlreicher Politbüromitglieder. In diesem Widerstand gegen die Konsequenzen der eigenen Politik kommt das Dilemma der DDR-Führung zum Ausdruck, gerade aus der Ausweitung unproduktiven Konsums ihre Legitimation zu beziehen und zugleich die Ausweitung der produktiven Akkumulation als  ‚Sachzwang’ vorzufinden. Vor allem von Honecker wurde die grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber Einsparungen bis in die späten 80erjahre hinein im Politbüro immer wieder vertreten.“ (S. 153)

  Dieses Dilemma ist um so gravierender, als das Bewusstsein der Führung auch theoretisch kein adäquates begriffliches Instrumentarium besaß, sich ihrer Problematik zu vergegenwärtigen. Ihre eigene Ideologie, die dogmatisch war und doch zugleich pragmatisch der Herrschaftssicherung angepasst wurde, hatte wichtige Einsichten der Marxschen Theorie verdrängt und verwässert. Wiards macht dies am Beispiel des Wertgesetzes deutlich. "Export in kapitalistische Länder setzte voraus, sowohl der Technologie als auch den Kosten nach keine schlechteren Produkte anzubieten als die kapitalistische Konkurrenz. Diese Konkurrenz war eingeschränkt, da anders als innerhalb eines kapitalistischen Marktes weder um die Arbeiterbevölkerung noch um den Durchschnittsprofit konkurriert wurde. ( ... ) Es galt in der DDR allerdings das Dogma, daß Warenproduktion und Wertbeziehungen im Sozialismus objektiv begründet und in ihrem sozialökonomischen Wesen sozialistisch bestimmt seien ( ... ). Um nicht in den Verdacht zu geraten, die geleistete Eigengesetzlichkeit des sozialistischen Wirtschaftens infragezustellen, wurde in der Diskussion daher zugleich daran festgehalten, daß im Sozialismus jede geleistete Arbeit unmittelbar gesellschaftlich notwendig und damit die Wertsubstanz spezifisch sozialistisch sei ( ... ). Der Widerspruch dieser Auffassung war offensichtlich: Wenn Bedingungen und Umfang der weltweiten Produktion drüber entscheiden, welche Arbeit international ein Mehrprodukt realisierten konnte, dann war damit die Möglichkeit gegeben, daß sich eine im Sozialismus geleistete Tätigkeit auf dem Weltmarkt als unnütz erwies - und damit auch keinen Wert produzierte." (S. 136)  Eine Arbeit, die der Produktivität im Weltmaßstab nicht genügt, stellte zwar Gebrauchswert her, aber keine Ware. Andererseits hatten die aus der Marxschen Kapitalanalyse entlehnten Begriffe im Realsozialismus durchaus eine Funktion. "Preise und Werte waren Größen, nach denen der Realsozialismus in gewissen Sinne funktionierte, waren nicht nur reine Symbolik, sondern beeinflußten das wirtschaftliche Geschehen. Inkonsistent waren sie, weil innerhalb der realsozialistischen Ökonomie kein Wertgesetz gelten konnte. Es war der die realsozialistische Ökonomie kennzeichnende Widerspruch, daß in ihr mit Wert (und Mehrwert) gewirtschaftet wurde, allerdings nur in Gestalt des vergeblichen Bemühens, beiden Objektivität zu verschaffen." (139)  Diesen Widerspruch zu entgehen, indem man sich vom Weltmarkt fernhält, findet seine Grenze nicht nur an der langsameren Entwicklung des Lebensniveaus der Bevölkerung und der daraus entstehenden Delegitimierung der Führung, sondern vor allem an der militärischen Konkurrenz, der man sich nicht verweigern konnte (man denke nur an Reagans Strategie, den Realsozialismus totzurüsten).

  Trotz dieser schier unlösbaren Problematik des Realsozialismus verfällt Wiards nicht in die abstrakte Negation dieses Systems, indem er z.B. auf einen Sozialismus nur nach einer Weltrevolution verwiese, die eine Konkurrenz mit den kapitalistischen Ökonomien beseitigten würde. Zumindest in einigen Andeutungen geht der Autor auf Alternativen ein. Seine Kritik, dass im Sozialismus kein "Wert" bestimmbar ist, Preise entweder irrational sind oder politisch festgesetzt werden, enthält auch die positive Bestimmung der Produktion, die am Gebrauchswert orientiert ist. Seine Kritik, dass die Parteiführung (Politbüro) die Bedürfnisbefriedigung der Bevölkerung als Planziele von oben her festsetzte, enthält auch die positive Idee, dass die Bevölkerung über die Planziele selbst bestimmt und damit die Diktatur der kollektiven Führung der DDR beendet. Dass dies keine geschlossene Theorie einer sozialistischen Gesellschaft ist, ergibt sich schon aus dem notwendig begrenzten Gegenstand des Buches. Der andere alternative Bewertungsmaßstab des Realsozialismus, die „Effektivität“ des Kapitalismus, die dann in der banalen Feststellung mündet, den Sozialismus doch gleich sein zu lassen, ist für Wiards nicht akzeptabel. Denn dessen Widersprüche, die Elend, Hunger, permanente Kriege um Einflusssphären, Rohstoffquellen und Absatzmärkte und Zerstörung einer lebenswerten Umwelt zur Folge haben, sind für einen rational denkenden Menschen keine bejahenswerte Realität.

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Bodo Gaßmann: Ethik des Widerstandes. Abriß einer materialistischen Moralphilosophie. Erinnyen 10 – 14, Garbsen 2001.

 

Diese Schrift geht wie alle anderen Werke des Autors von der Notwendigkeit aus, die unbeherrschbare Kapitalökonomie abzuschaffen, weil in ihr das Individuum zu einem bloßen Mittel degradiert wird, was dem Moralgesetz widerspricht. Gleichzeitig hält sie daran fest, Widerstand und Veränderung nicht ohne Moral zu praktizieren, weil eine Umwälzung der Verhältnisse ohne Moral den zehntausendjährigen Kreislauf von Herrschaft und Gewalt nicht durchbrechen kann.

    Der Autor hat sein Buch in vier größere Kapitel gegliedert. Er beginnt mit einer Analyse des Handelns in der kapitalistischen Gesellschaft. Ausgehend von der Umgestaltung der Erde entwickelt er rekursiv allgemeine Handlungsprinzipien, die der modernen Industriegesellschaft zu Grunde liegen. Dabei wird er immer konkreter und gelangt über die Interessen in der kapitalistischen Gesellschaft zur Moral, die er als ideelle Existenzbedingung kapitalistischer Tauschgesellschaften bestimmt. Moral ist aber nicht nur funktional in der heutigen Gesellschaft, z.B. um die Eigentumsordnung zu sichern, sie wird auch zur Ideologie des Bestehenden, hat andererseits aber auch einen Überschuss, der vor allem in den großen Gestalten der Moralphilosophie wie der von Kant erkennbar ist. Moral wird in dieser Schrift mit Kant als Gesetz der Freiheit verstanden, sie ist dadurch zugleich eine allgemeine Bedingung der Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens der Menschen. Dieses Versprechen klassischer bürgerlicher Philosophie ist von einer sozialistischen Bewegung zu bewahren, will sie nicht hinter den Stand der Zivilisation zurückfallen, der heute in der westlichen Welt zumindest partiell erreicht ist. Im Kapitel „Glückseligkeit und Moral“ wird von Bodo Gaßmann gezeigt, dass Glückseligkeit zwar der oberste Zweck menschlichen Strebens sein sollte oder seine kann, von dieser Position die bestehenden Grenzen kritisiert werden können, aber der Begriff der Glückseligkeit kann keinen Grund für ein Moralprinzip abgeben.

    Dieses entwickelt der Autor mit Kant allein aus der Vernunft, auch wenn er sich der sozialen Implikationen selbst der abstraktesten Bestimmung bewusst ist. Ein solches Moralprinzip sieht der Autor in der Zweck-Mittel-Gestalt des kategorischen Imperativs von Kant. Zugleich zeigt er, dass dieser der Struktur kapitalistisch verfasster Gesellschaften, also den Produktionsverhältnissen, diametral widerspricht. Eine solche vernunftbestimmte Moral ist unter den antagonistischen Bedingungen der Gegenwart mit der objektiven Unmöglichkeit konfrontiert, ethische Einsicht und tatsächliches Handeln zur Synthesis zu bringen. Der Schluss jedoch, auf Grund dieser Unmöglichkeit moralbestimmtes Handeln zu verabschieden, ist falsch und zementiert zwangsläufig den Zustand, der freies Handeln verhindert. Er kann sich dabei auf seine Studien über den Zusammenhang von Ethik und Kapitalanalyse bei Marx beziehen. Die Konsequenz daraus kann aber nicht sein, den kategorischen Imperativ aufzugeben. Das würde heißen, dass mit dem Menschen alles gemacht werden kann. Es gäbe selbst im theoretischen Bewusstsein keine Schranke mehr gegen so etwas wie Auschwitz. Auch eine sozialistische Umgestaltung der sozialen und ökonomischen Verhältnisse müsste diesen Imperativ zu Grunde legen, will sie etwas anderes sein als bloß eine neue Art von Klassengesellschaft. Liest man nur dieses Begründungskapitel, dann wird man der dialektischen  Darstellungsweise von Gaßmann nicht gerecht. Denn weder identifiziert er sich mit der These, Handeln in der kapitalistischen Gesellschaft, noch mit der Antithese, vernunftbestimmte Moralphilosophie, sondern seine eigentliche Leistung besteht in der Vermittlung dieser beiden Behauptungen. Wer wie die „Arbeiterstimme“ von Gutmenschen redet, geht an der Problematik der Auffassung des Autors vorbei.

    Den auf Veränderung abzielenden oder bloß Widerstand leistenden Bewegungen stellt sich das Problem, dass sie sich selbst nicht immer nach dem Moralgesetz richten kann, weil die antagonistischen Verhältnisse dies verhindern. Will eine sozialistische Bewegung tätig werden, dann muss sie dieses Problem systematisch reflektieren. Bodo Gaßmann leistet dazu einen Beitrag in seinem Kapitel: „Die Pragmatik des Handelns“, auch wenn der Begriff „Pragmatik“ wahrscheinlich bei einigen auf Ablehnung stoßen wird. In der Spannung zwischen der objektiven Verhinderung moralbestimmten Handelns und der fatalistischen Resignation bewegt sich die Ethik des Widerstandes. Sie reagiert auf die amoralische Veränderung der Welt durch den bürokratischen Kollektivismus ebenso wie auf die moralisch verbrämte Einfügung ins Getriebe der kapitalistischen Mehrwertproduktion. Seine These ist, in den Handlungen muss der – zunächst utopisch erscheinende – Imperativ immer schon anwesend sein, damit man sich überhaupt Rechenschaft geben kann, dass man im Handeln gegen seine eigenen Ziele verstößt. Seine pragmatische Regel lautet: „1. Haben Revolutionäre die Wahl zwischen verschiedenen Mitteln, dann wählen sie diejenigen, die dem Moralgesetz am adäquatesten sind. 2. Es müssen, wenn es notwendig ist, auch unmoralische Mittel erlaubt sein. 3. Aber die Veränderer dürfen nicht alle Mittel anwenden.“ (S. 155)  Die Ethik des Widerstandes ist deshalb gezwungen zu fragen: Wieweit kann ich vernünftigen Prinzipien folgen, ohne unfähig zum Widerstand zu werden? Wieweit darf ich moralische Prinzipien in meiner empirischen Tätigkeit des Widerstandes relativieren, ohne dem allgemeinen Opportunismus zu verfallen. Eine sozialistische Bewegung unterscheidet sich dadurch nicht nur in der Wahl der Mittel von Gruppen wie der Al Qaida, die mit ihrem Terror unschuldige und zufällig Opfer vernichtet, sondern auch durch eine allgemeine Menschheitsperspektive, die im kantischen Moralgesetz impliziert ist.

    In seinem letzten Kapitel zeigt der Autor an ausgewählten Beispielen aus der Geschichte und der Gegenwart, wie Menschen mit ähnlichem philosophischen Hintergrund sich moralisch bewährt haben. Beispiele schaffen eine Verbindung zwischen wissenschaftlicher Reflexion und konkretem Handeln, ihre Auswahl enthält aber immer auch ein Moment von Willkür. So hatte Gaßmann davor das Verhältnis von bloßem Widerstand und verändernder Tätigkeit nicht systematisch reflektiert, in diesem Kapitel stehen beide Handlungsformen notwendigerweise auch nur lose zusammen. Es wird unter vielen anderen Beispielen Liebknechts Verweigerung der Kriegskredite ebenso reflektiert wie Dutschkes Brief an seinen Attentäter, Che Guevaras Guerillakrieg ebenso wie das Verhör Wallaus aus dem Roman von Anna Seghers: „Das siebte Kreuz“. Diese reflektierten Beispiele müssen seiner Ansicht nach auch deshalb vorgestellt werden, weil das konkrete Handeln sich nicht nach einem Schema berechnen und kalkulieren lässt, sondern geistige Sensibilität erfordert, die man neben der Theorie auch durch die Reflexion von Beispielen sich aneignen muss.

    Dass die beste Methode, diese moralische Sensibilität sich anzueignen, die Praxis einer Bewegung ist, würde der Autor Bodo Gaßmann sicherlich zustimmen. Bücher können diese nicht ersetzten. In dieser Erkenntnis liegt aber auch ein kritischer Einwand gegen dieses Buch. Gaßmann schreibt eine Ethik des Widerstandes für eine sozialistische Bewegung, die es gar nicht mehr gibt. Der nachträglichen Reflexion der sozialistischen Praxis des 20. Jahrhunderts widerspricht aber sein pragmatischer Ansatz. So könnte man dieses Buch als eine Ethik für das 22. Jahrhundert ansehen, es sei denn die Widersprüche der Kapitalherrschaft provozieren eine neue Bewegung, die nicht nur Widerstand leistet, sondern auch an die Abschaffung dieses Herrschaftssystems geht.

 

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Manfred Geier: Kants Welt. Eine Biografie, Reinbek bei Hamburg 2003 (Rowohlt).

  Der zweihundertste Todestag eines Denkers ist in Bezug auf die Geltung seines Werkes belanglos. Dennoch ist dieses äußere Datum im Medienbetrieb ein willkommener Anlass zum Gedenken eines der bedeutendsten Philosophen der Neuzeit. Gleich drei neue Biografien sind in diesem Zusammenhang erschienen, die z.T. neues biografisches Material verwenden. Die Biografie von Manfred Geier, die wir zufällig ausgewählt haben, zeigt alle Größen und Schwächen solcher Werke. Geier will Kants Biografie, die historischen Bedingungen, die diese prägten, und seine geistige Entwicklung im Zusammenhang darstellen. Dieser heute übliche Ansatz bringt den Kant-Laien durchaus etwas. Die flotte Schreibweise des Autors und seine erfrischend aufklärerische Intention stellen gut die Entwicklung des jungen Kant gegen anbetende oder religiöse Vereinnahmung dar. Geier bezieht sich auf neuere Erkenntnisse über Kants Leben, vor allem aber arbeitet der Biograf Kants Kämpfe mit sich und seine Auseinandersetzung mit den Denkern seiner Zeit heraus. Dabei legt er einen besonderen Schwerpunkt auf Kants Rezeption der Newtonschen Physik. Auch Schwierigkeiten in seiner akademischen Karriere werden beleuchtet, so dass man einen guten Einblick in das damalige Universitätswesen und die zeitweiligen Zensurmaßnahmen gegen den Philosophen bekommt. Die letzten Lebensjahre versucht der Biograf sachlich darzustellen, ohne die vielen Legenden zu kolportieren, die sich um diesen Abschnitt angesammelt haben.

  Die Grenze der „biografischen Methode“ zeigen sich aber da, wo diese überzogen oder verabsolutiert wird. Falsches Denken muss herauskommen, wenn man den Zusammenhang von Biografie und Philosophie einseitig zu Gunsten der Biografie auflöst. Schon im Vorwort macht der Autor seine skeptische Position deutlich: „Das theoretische Erkenntnisvermögen sieht sich unausweichlich durch seine eigene Fehlbarkeit irritiert, die es zwar zu überwinden versucht, aber niemals ausschalten kann“ (S. 9f.). Solange Kant selbst noch eine Suchender war, wirkt sich dieser Skeptizismus nicht negativ auf den Inhalt aus. Aber gerade bei der Darstellung von Kants Ethik unterschlägt Geier gerade die Argumente, die Kants Stärke ausmachen. Das Problem des 18. Jahrhunderts war in Bezug auf metaphysische (nicht-empirische) Bestimmungen theoretische Sicherheit zu begründen. Die dogmatische Setzung des Rationalismus verfiel der Humeschen Kritik und der Empirismus selbst konnte keine sicheren Ideen (Vernunftbegriffe) begründen. Kants genialer Gedanke – der bei Geier fehlt – war seine rekursive Begründung. Wenn es eine wahre Wissenschaft gibt, die logisch stimmig ist, ihren Gegenstandsbereich vollständig erklären kann und zunehmend in der Praxis der beginnenden Industrialisierung sich bewährte, dann müssen auch die auf Verstand, Vernunft und Urteilskraft bezogenen Bedingungen ihrer Möglichkeit wahr sein. Diese Wissenschaften fand Kant vor in der Newtonschen Naturwissenschaft und der Mathematik. Sind deren allgemeine Bestimmungen Bedingungen der Möglichkeit wahrer Wissenschaft, dann werden sie zum „Faktum der Vernunft“ und bestimmen auch die Begründung der Moralphilosophie, soweit Vernunft überhaupt etwas bestimmen kann. Geier spricht stattdessen von „ethischer Letztbegründung“ (S. 230) und unterstellt damit, dass eine solche sowieso nicht möglich ist. Kants Moralphilosophie als avancierter Stand der Vernunft seiner Zeit und Resultat der philosophischen Tradition wird zum beliebig sich ändernden „moralphilosophischen Paradigma“ (S. 238), dem bezuglos ein anderes folgt. Völlig absurd wird die Darstellung von Kants Moralphilosophie, wenn er mit Wittgenstein von den „moralischen Erzählungen“ (S. 246)  Kants spricht. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, die reinen Bestimmungen Kants aus seiner Biografie zu erklären. „Auch in seiner Formel des kategorischen Imperativs haben sich lebensgeschichtliche Spuren eingeschrieben. Es wurde schon früh darauf hingewiesen: ‚Kant lebte wie er lehrte.’ Aber war es nicht eher umgekehrt? Stammte das, was er als philosophische Lehre formulierte, nicht aus seinen Lebenserfahrungen? Waren nicht die Ideale und Pflichten abgeleitet aus der Lebensform, die er wollte und durch jene Maximen festigte, die seiner Persönlichkeit entsprachen?“ (S. 250)  Was noch vorsichtig als Frage daherkommt, wird sofort zur apodiktischen Gewissheit, die es nach Geier doch gar nicht geben dürfte: „Man muss Kants Charakter berücksichtigen, um der Intention seiner Ethik folgen zu können.“ Damit wird Kant wieder zum Empiristen heruntergebracht. „Auch als reiner Moralphilosoph hat Kant von sich gesprochen.“ (S. 250)  Da sind wir wieder bei dem Furz, der die Welt veränderte. Als ob es nicht objektive Bestimmungen gibt, die in ihrer Geltung unabhängig sind von den Individuen, die sie geschaffen haben. Für die Naturwissenschaften erkennt das jeder praktisch an. In den so genannten Geisteswissenschaften dagegen werden Karriereprämien auf die Verwässerung von Theorie ausgelobt und es ist schick gegen die offensichtliche Geltung von Wissenschaften den Skeptiker herauszukehren – sei es als Neopositivist, Popperjaner oder gar postmoderner Spinner.

   

  Kant um 1790

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Stand: 24. Juni 2005