Inhalt
Amoralische
Kritik, moralisierender
Antikapitalismus
oder
autonome Moral?
Oskar Negts Vorstellungen von Arbeit und
menschlicher Würde
Amoralische
Kritik
moralisierender
Antikapitalismus
oder
autonome Moral?
Die antikapitalistische Linke hat ein ethisches Defizit und
kann doch nicht einfach moralisch handeln oder moralisch argumentieren, ohne
einer falschen Praxis Vorschub zu leisten oder in falsches Bewusstsein
abzugleiten. Das verleitet sie zur Denunziation der Moral überhaupt.
Die primitivste Form, Moral zu denunzieren, ist es, sie auf
Sexualmoral herunterzubringen. Aber was zwei (oder mehr) freiwillig übereinander,
nebeneinander und untereinander treiben, hat nichts mit Moral zu tun.
Bestenfalls gilt der Spontiratschlag gegen alle Puritaner, Ajatollahs, den Papst
und die Bildzeitung: "Seit nett aufeinander." Und wenn man schon nicht
ohne Regeln auskommen will, dann doch wohl pragmatische wie angesichts der
Aids-Gefahr, z.B. solche: "Nur ein Dummi machts ohne Gummi."
Eine Denunziation der Moral besteht auch darin,
kleinlich-strenge und asketische Sittenregeln aufzustellen angesichts der
ungeheuren Warenproduktion der kapitalistischen Welt. Die maoistische DHKPC in
der Türkei etwa stellt eine „revolutionäre Moral“ auf, die sich von den
"schlechten Sitten" der kapitalistischen Dekadenz abheben soll.
"Darin wird aufgelistet, welche schlechten Sitten sich
für einen Revolutionär verböten. Zum Beispiel: sich lässig in ein Sofa
hineinzufläzen, Alkohol- und Drogenkonsum, aber auch der intime Umgang
zwischen den Geschlechtern. Es wird Männern, besonders aber auch Frauen genau
aufgegeben, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, damit die äußere Erscheinung
nicht etwa die Rundungen des Körpers betont oder sonstwie Begierden erweckt:
keine hautengen Hosen bei Männern, keine hochhackigen Schuhe, ausgeschnittenen
Oberteile, kurze Röcke, auffällige Kosmetik bei den Frauen. Begründet wird
der strenge Katalog damit, daß man sich immer die natürlichen und bewährten
Moralvorstellungen des einfachen Volkes zum Vorbild nehmen müsse ( ... )".
Justus Wertmüller in: konkret,1 /2002, S. 22)
Schon seit über zweitausend Jahren gibt es Moral, hier
das uns beobachtende Auge der ägyptischen Gottheit, doch das Moralisieren ist
selbst unmoralisch, weil es nicht die Bedingungen des Handelns
reflektiert.
Diese Befangenheit in den bornierten Verhältnissen des
eigenen Landes, oder wohl besser einiger ländlicher Regionen, ist reaktionär.
Statt die Leute bei diesen arkanen Ansichten abzuholen und sie kritisch in die
Moderne zu führen, passen sich die „Maoisten“ den feudalen Gewohnheiten an
und erklären ihre Heteronomie auch noch zur revolutionären Moral.
Autonome Moral dagegen ist nach Kant das vernunftbestimmte
Gesetz der Freiheit. Die Alternative dazu ist der Krieg. Dass auch in
Deutschland autonome Moral wenig vorkommt, zeigen die Karrieren von Politikern.
Wenn Leute wie Joseph Fischer sich vom linken Politikrabauken zum Pazifisten
wandeln und dann als Außenminister einer kapitalistischen Demokratie Kriege
mitinszenieren, dann ist der Mangel an autonomer Moral und autonomen
Bewusstseins zumindest ein Grund
solcher opportunistischen Wandlungen. Ohne ein autonomes Bewusstsein, das auch
autonome moralische Prinzipien einschließt, hätte das Individuum noch nicht
einmal die Möglichkeit, sich den Konjunkturen des Marktes, den propagierten
Moden, den offerierten Ideologien, den letzten Schrei der Medien zu entziehen.
Es wäre verdammt, ein Hampelmann der Verhältnisse oder der eigenen psychischen
Dispositionen zu bleiben.
Da nun moralisches Handeln zur Veränderung der
gesellschaftlichen Verhältnisse weit gehend verbaut ist, entziehen sich die
Kritiker der Klassengesellschaft der moralischen Argumentation. Wer sich auf moralische Gründe bezieht,
wird denunziert als „Gutmensch“, der nur sein Gewissen beruhigen wolle, aber
keine Wirkung in der Praxis des Klassenkampfes hätte. In diesem Sinne schreibt
die „Arbeiterstimme“:
„In der Tat kann es für einen überzeugten Klassenkämpfer
Genugtuung sein, sich für Gleichgesinnte eingesetzt zu haben und dem
gemeinsamen Ziel vielleicht ein Stück näher gekommen zu sein. Waren die Bemühungen
umsonst, bleibt zumindest das gute Gewissen. Doch verbliebe Solidarität auf das
so genannte ‚Gutmenschentum’ beschränkt, dann wäre sie dem Umfang und der
Stärke nach kaum entwicklungsfähig. Gerade die Geschichte der deutschen
Arbeiterbewegung bis 1933 hat aber gezeigt, welches gewaltige Potential in
Klassenkämpfen zu entfachen. Materialistisch gesehen entwickelt sich Solidarität
besonders dann, wenn sie auf Gegenseitigkeit unter Gleichen beruht. Notwendig
geworden, also um wirklich im Wortsinn ‚die Not zu wenden'.“
(Arbeiterstimme, Nr. 132, Juni 2001, S. 8)
Die „Arbeiterstimme“ verwechselt autonome Moral mit dem
üblichen Pfaffengeschwätz. So wie schon Kant als Gesinnungsethiker denunziert
wurde, so wird eine sozialistische Moral als „Gutmenschentum“ verunglimpft.
Als ob ein Sozialist sich sagt: jetzt begehe ich wieder einmal eine gute Tat und
übe Solidarität mit den Geknechteten. Tatsächlich wird unser Handeln bestimmt
durch eine Vielfalt von Motiven. Wir handeln nach unseren unmittelbaren und
vermittelten Interessen, beachten die Situation, ihre Möglichkeiten, Lust und
Unlust spielen eine Rolle, persönliche Beziehungen, der Klassenkampf und vieles
andere mehr ... Niemand handelt explizit, um eine Moralnorm zu erfüllen, und
kein Moralphilosoph fordert so einen Blödsinn, ausgenommen lebensfremde Paffen.
Das Moralgesetz, als ein weiterer Aspekt, der beim Handeln beachtet werden
sollte, dient dazu, unsere Maximen und die daraus folgenden Handlungen zu überprüfen,
ob sie mit dem Moralgesetz übereinstimmen. Stimmen sie nicht mit dem
Moralgesetz überein, und das ist unter den antagonistischen gesellschaftlichen
Verhältnissen zwangsläufig der Fall, dann muss man dies vor sich selbst und
seinen Genossen zumindest rechtfertigen, denn das Moralgesetz repräsentiert die
allgemeine Menschenvernunft im Interessenkampf. Die einzige rationale Begründung,
gegen das Moralgesetz zu verstoßen, besteht, neben dem Drang zu überleben,
darin, Bedingungen herstellen zu wollen, die moralisch begründetes Handeln ermöglichen.
So ist z.B. ein Streik um höhere Löhne und die dabei praktizierte Solidarität
solange bloß ein Kampf um partikulare Interessen, solange nicht auch eine
Abschaffung - und sei es langfristig - der kapitalistischen Verhältnisse intendiert
ist.
Ein Verstoß aber gegen das Moralgesetz ist immer zugleich
eine kleinere oder größere Kriegserklärung. Er ist also auch pragmatisch zu
bedenken und nicht nur eine Frage des Gewissens, das als rationales immer nur
die praktische Vernunft des Menschen sein kann. Beachtet man diese Vernunft
nicht, dann setzt sich jede Solidarität beim Klassenkampf dem Verdacht aus, bloßes
Instrument etwa der Karriereinteressen von Funktionären, ein Scheingefecht, um
die Arbeiter zu beruhigen, oder als Begriff lediglich Klassenkampfrhetorik zu
sein.
Die avancierte Vernunft fordert, keinen Menschen als bloßes
Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich selbst zu behandeln. Da dies unter
antagonistischen Verhältnissen nicht möglich ist, folgt konsequent aus diesem
Moralgesetz der historische Imperativ, die gesellschaftlichen Bedingungen so zu
ändern, dass alle Menschen als Zweck an sich selbst leben können. Eine
Solidarität, die sich nicht darauf beziehen lässt, ist prinzipiell von der
Kumpanei einer Gang nicht zu unterscheiden, selbst wenn die Interessen auf dem
Boden der kapitalistischen Produktionsweise eine gewisse Berechtigung haben.
Auch wenn die Moral als eine Form der Begründung von
Handlungen geduldet wird, läuft letztlich die Position der
"Arbeiterstimme" auf eine amoralische Kritik der bürgerlichen
Gesellschaft hinaus. Diese wird konsequent vertreten vom "Gegenstandpunkt".
Moral und insbesondere die Menschen- und Bürgerrechte
erscheinen dieser Vierteljahreszeitschrift als moralisches Druckmittel, um
partikulare (z.B. nationale) Interessen durchzusetzen. Als Ende des Jahres 2000
in Nizza der Europäische Rat eine „Europäische Grundrechtscharta“
feierlich proklamierte, schreibt der „Gegenstandpunkt“ dazu:
„Wenn es um die Durchsetzung neuer Abstimmungsverfahren für
neue Ermächtigungen und Entmachtungen geht, ergänzt sie (die deutsche
EU-Führungsmacht, d.Verf.) den politischen um den moralischen
Druck der Verfassungs- und Werte-Debatte, die stets die eine
eindeutige Botschaft transportiert: Mehr Kompetenzen sollen von allen abgegeben
werden, mehr ‚Integration’ soll sein, mehr
Unterordnung der Mitgliedstaaten unter die Raison der Gemeinschaft. Die
schlichte Berechnung ist offenkundig und allen Beteiligten geläufig: Die
ohnehin mit dem größten politischen und ökonomischen Erpressungspotential
ausgestatteten Führungsstaaten, vor allem Deutschland und Frankreich, suchen
Mittel und Wege, die Integration, also gemeinschaftsgebundene Unterordnung, der anderen
mit der eigenen Sonderstellung zu verbinden und diese in den
institutionalisierten Entscheidungsprozessen der Union zu zementieren.“ (S.
150, 1 - 01)
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Nun wollen wir diese behauptete Kalkulation der
„deutschen EU-Führungsmacht“ nicht bestreiten; dass Moral
(„Werte“) auch als Mittel zur Durchsetzung nationaler Interessen benutzt
wird, also partikularer, während sich Moral als allgemein gültig gibt, ist spätestens
seit Bethmann-Hollwegs Proklamation eines „ethischen Imperialismus“
geläufige Praxis zwischen kapitalistischen Staaten. Für den
„Gegenstandpunkt“ erschöpfen sich Moral und Menschenrechte aber in ihrer
Funktion als Mittel zur Durchsetzung partikularer Interessen. Dies gilt ihnen
nicht nur für den Zeitpunkt der Proklamation, sondern auch für den Inhalt der
Menschenrechte.
Über die „Würde des Menschen“ schreiben sie: „Im
Kapitel 'Würde des Menschen' werden
in fünf Artikeln die altbekannten Elementar-Brutalitäten demokratischer
Staaten abgewickelt: Durch die Gewährleistung
von ‚körperlicher und
geistiger Unversehrtheit’, ‚Verbot
der Folter’ und der ‚Sklaverei’ und sogar des schlichten physischen ‚Lebens’ werden die grundlegenden Umstände individueller Existenz zu Schutzgütern
ernannt, zu Rechtsgütern, also zu
Fragen staatlich entschiedenen Dürfens, zur
Disposition und unter den Vorbehalt
der Gewalt, die all diese schönen Rechtsgüter aus selbst zugewiesener
Machtvollkommenheit einräumt.“ (S. 152, 1, 01)
Hinter dieser Überlegung steht die Vorstellung einer moral- und
rechtsfreien Gesellschaft, die nicht mehr staatlich organisiert ist und in der
Gewalt zwischen Menschen verschwunden ist: „Eine andere Form kollektiven
Zusammenlebens, als die herrschende, unter der Fuchtel einer staatlichen
Gewalt“ (S. 151; 1, 01). Abgesehen von der Frage, ob diese Vorstellung nicht
utopistisch ist, also nicht realisierbar, leben wir im Hier und Jetzt. Soll
Kommunismus nicht ein Ideal sein, sondern die wirkliche Bewegung (Marx) zu einer
Abschaffung der Kapitalherrschaft, dann müsste eine solche Bewegung die
Schutzfunktion dieser moralischen und rechtlichen Begriffe betonen. Denn „die
altbekannten Elementar-Brutalitäten demokratischer Staaten“ sind eine
ständige Drohung, gegen die eine (mögliche) sozialistische Gegenmacht von
unten auch publizistisch die „Würde des Menschen“ verteidigen müsste. Das
provozierende Moment solcher Kritik, wie sie der “Gegenstandpunkt“
verbreitet, entlarvt nicht nur die normale demokratische Heuchelei, sondern
denunziert auch jede Art rationaler Moral.
Gerade eine zukünftige gewaltfreie Gesellschaft bedarf des
Moralgesetzes, des „sanften Zwanges der Vernunft“ (Aristoteles), damit die
Menschen ihre Beziehungen friedlich regeln können. Und selbst wenn das
Moralgesetz wie selbstverständlich gelebt würde, in die Gewohnheiten der
Menschen versenkt wäre - entsprechende Bedingungen vorausgesetzt -,
so dass diese von sich aus schon moralisch handeln, bliebe es notwendig, dieses
Gesetz in Erinnerung zu halten, um mögliche Konflikte friedlich zu regeln oder
um zu verhindern, in neue Formen von Herrschaft zurückzusinken.
Die Erfahrungen in der Sowjetunion haben drastisch die
Notwendigkeit verbindlicher rechtlicher und moralischer Regeln gezeigt, auf die
sich jeder auch gegen einen Übergangsstaat berufen kann. Erkennt eine solche Übergangsgesellschaft
keine Moral an, die auch Maßstab ihres Rechtes sein müsste, dann erklärt sie
ihrem Volk den Krieg. (Eine Übergangsgesellschaft als Sozialist abzulehnen ist
eine anarchistische Utopie.)
Dass in den bürgerlichen Grundrechten mehr enthalten ist
als bloßer „Wertehimmel“ über dem kapitalistischen Geschäft, als
„Fixsterne am Himmel der Werte“ (FAZ, 5.9.00) und als
„Werte-Oberhaus“ (S. 151), geben die Autoren vom „Gegenstandpunkt“
durchaus zu, wenn sie die Menschen- und Bürgerrechte als „rechtsförmige
Erklärung der wertmäßigen Geschäftsordnung einer Bürgerlichen
Gesellschaft“ bestimmen. Am Beispiel der „Freiheit“ wird dies dann konkret
erklärt:
“Die Euro-Charta ( ... ) gewährt in Art. 15 Ziff.
1 ‚das Recht zu arbeiten’, wenn
die in Art. 16 ‚anerkannte’
‚unternehmerische Freiheit’ dazu führt, dass sie in Betätigung des in
Art. 17 garantierten ‚Eigentumsrechts’
einen berechtigten Arbeiter gebrauchen kann. Der hat dann das Recht, zu
arbeiten, was das Zeug hält, und sich mit dem, was er sich für seinen Lohn als ‚rechtmäßig
erwobenes Eigentum’ (Art. 17) gekauft hat, ‚in Freiheit und Sicherheit’ als ‚Person’ (Art. 6, Einleitung des Kapitels über die ‚Freiheiten’)
zu entfalten, genauso wie es sein Arbeitgeber mit seinem
Eigentum hält, dem im Zuge seines
rechtmäßigen Erwerbs bekanntlich dauernd die Produkte
der Arbeit zuwachsen." (S.153)
Freiheit ist demnach nicht einfach ein „Wert“ im
„Wertehimmel“, also moralische Ideologie, sondern eine ideelle
Existenzbedingung der kapitalistischen Gesellschaft, d.h. ohne die bürgerliche
Freiheit der Person würde kein Kapitalismus in seiner jetzigen Form dauerhaft
funktionieren (was nicht heißt, dass der Staat diese Freiheit zeitweilig
drastisch einschränkt, z.B. zur demokratischen oder faschistischen Bewältigung
von Wirtschafts- und Gesellschaftskrisen). Denn die Freiheit zur
Investitionsentscheidung (gleich „freie Entfaltung der Persönlichkeit“) und
der Arbeitsmarkt mit freier Wahl des Arbeitsplatzes („Freiheit der Person“)
sind notwendig Bedingungen dieser Produktionsweise, die in den
Grundrechten ideell ausgedrückt werden.
Wenn dem aber so ist, dann haben Kommunisten die Pflicht,
wenigstens die demokratischen Freiheitsrechte zu verteidigen als historischer
Stand der Moralität gegen deren tendenzielle Beseitigung, die ebenfalls ständig
in der kapitalistischen Gesellschaft angelegt ist. Sie brauchen deshalb nicht
auf den Schwindel eines "Wertehimmels" hereinzufallen und sie müssen
auch die Grenzen dieser Bürger- und Menschenrechte samt der hinter ihr
stehenden Moral, nämlich als ideelle Existenzbedingung der Kapitalherrschaft
und ihrer ausbeuterischen Klassenordnung kenntlich machen. Die bürgerliche
Moral durchschaut und trotzdem verteidigt. Aus ihren Widersprüchen, einerseits
den Schutz der Menschen zu begründen, andererseits eine Eigentumskonzentration
abzusichern, die diesen Schutz systematisch zerstört, muss Moral zur
subversiven Forderung werden, die Herrschaft des Kapitals zu beseitigen. Erst
wenn Verhältnisse geschaffen werden, die einen moralischen Zustand erlauben, in
dem das Moralgesetz gelebt werden kann, wird Gewaltlosigkeit allererst möglich.
Fragt man, was der Gegenstandpunkt eigentlich will, dann
ist dies nur indirekt erkennbar. Sie kritisieren die Beschränkung der
Meinungsfreiheit auf diejenigen, die sich „ohne Anspruch auf Richtigkeit neben
anderen einsortieren und sich des Übergangs zu einem Interessestandpunkt, womöglich
mit Anspruch auf Durchsetzung, enthalten.“ (S. 152) Also sollen die Lohnabhängigen, für die sie
schreiben, im Umkehrschluss einen konsequenten Interessenstandpunkt einnehmen
und ihre Interessen, also wohl die an der Beseitigung der Kapitalherrschaft,
durchsetzen. Das aber ist ein unreflektierter Utilitarismus, wie er schon bei
Lenin zu finden ist, der zwangsläufig scheitern muss, nicht nur weil er selbst
eine bürgerliche Ideologie ist, die den Boden des Bestehenden nicht theoretisch
überschreitet, sondern vor allem weil er in sich kein Prinzip enthält, nach
dem divergierende Interessen innerhalb der
Klasse der Lohnabhängigen sich orientieren könnten. Lenin war dementsprechend
auch hilflos solchen Interessenkonflikten gegenüber und hat sie nur mit den
Mitteln der Gewalt lösen können - vom bürokratischen Kollektivismus der
Stalinzeit ganz zu schweigen. Hier wird leichtfertig der avancierte Stand der
ethischen Vernunft - wie er etwa in der Folge der Moralphilosophie Kants
entstanden ist - aufgegeben zu Gunsten eines plumpen Denkens, das schon
einmal in der Geschichte zu Millionen Toten geführt hat.
Ist Moral aber ein Aspekt des Handelns, der zu berücksichtigen
ist, dann könnte man zu der Auffassung kommen, die kapitalistische Wirklichkeit
moralisch kritisieren zu müssen. Doch die Gefahr einer Kritik des Bestehenden,
die auch moralische Argumente benutzt, liegt im Abgleiten ins Moralisieren. Wenn
die gesellschaftlichen Bedingungen ein durchgehend moralisches Handeln
verhindern, dann kann anderen, Gegnern wie Genossen, nicht einfach unmoralisches
Verhalten als Schuld angelastet werden. Dies aber machen konservative Kritiker
des Kapitalismus wie auch geistig verbohrte Kommunisten (siehe oben die
Maoisten).
Da die Kulturindustrie ständig Wünsche weckt, die sie
nicht befriedigen kann und die auch von der Gesellschaft nicht zugelassen
werden, wird eine Art Moral propagiert, welche die Frustrationen rationalisiert
und ihnen dadurch einen Sinn gibt. Statt präzise Analyse und Kritik der Kapitalökonomie
wird der moralische Zeigefinger gehoben. „Nicht nur islamische Faschisten und
türkische Maoisten weisen die Orientierung an kapitalistischen
Vergesellschaftungsstandards zurück, auch die westliche Welt fällt in
Depression angesichts der eigenen Geschöpfe. In den USA geloben Studenten zu
Tausenden, keusch in die Ehe gehen zu wollen. Der Krieg gegen Alkohol-,
Drogen- und Zigarettenkonsum nimmt hysterische Formen an, die neuesten
Schlager werden akribisch auf ‚explicit lyrics’ untersucht, und eigenartige
Bekenntnisse zu christlichen Werten greifen um sich. Im aufgeklärten
Kalifornien tritt gleichzeitig die Bewegung für die Gleichberechtigung der
Geschlechter an und publiziert an einer Universität einen alle Studenten
verpflichtenden Grundlagenvertrag, dessen Befolgung das Problem der sexuellen
Gewalt ein für alle Mal beheben soll: Die Annäherung zwischen möglichen
Sexualpartnern habe einem Verhandlungsmodell zu folgen, demzufolge jede Grenzüberschreitung,
beginnend mit dem schüchternen Griff nach der Hand des begehrten anderen bis zu
den Varianten des Sexualaktes, nur nach verbalem Übereinkommen legitim sei.“
(Wertmüller in: konkret 1/2002, S. 22 f)
Das Moralisieren bewertet eine Sache, ohne sie genau zu
kennen. Wer moralisiert, hat nicht begriffen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse
zu Verhaltensweisen zwingen, um überleben zu können, die nicht moralisch
legitimierbar sind. Statt nun auf eine Veränderung der sozialen Verhältnisse
und der ihnen vorausgesetzten Ökonomie zu dringen, werden von den Moralisierern
die Individuen für das verantwortlich gemacht, was das „automatische
Subjekt“ Kapital anrichtet. Sie verschleiern dadurch die wahren Gründe für
das amoralische Verhalten und wollen die Menschen mittels Lustfeindlichkeit,
Schuldkomplexen und Rationalisierungen ihrer Frustrationen disziplinieren, damit
sie weiter funktionieren. Die Moralisten betätigen sich also als Stützen einer
Produktionsweise, die einen „Zustand der Moralität“ (Kant) verhindert.
Moralisieren ist deshalb unmoralisch. Der einzige berechtigte Schuldvorwurf an
die Menschen, die unter der kapitalistischen Vergesellschaftung leiden, ist der,
dass sie nichts tun, um die Ursachen dieses Leids zu beseitigen.
Justus Wertmüller, dem wir in seiner Kritik an den
Moralisierern zustimmen, nimmt nun deren Moralvorstellung für alle Moral. „In
Zeiten, in denen Antikapitalismus häufig den
Wunsch nach einem Rückfall hinter die beängstigenden Hervorbringungen der
kapitalistischen Welt meint, bedarf der Ruf nach Abschaffung kapitalistischer
Vergesellschaftung einer umfassenderen Begründung als die der Bilanzierung von
Millionen Hungertoten und der vielen anderen alltäglichen Scheußlichkeiten.
Diese Bilanzen nämlich haben Antikapitalisten höchst unterschiedlicher Prägung
zum Beweis der Richtigkeit ihrer Lehren gemacht, welche nicht mehr als die
negative Gleichheit in einer total moralisierten Welt bereithalten.“ Gegenüber
grünen Ideologen und anderen Weltverbesserern, die unsere Erde als einen Apfel
ansehen, der von den kapitalistischen Würmern aufgefressen wird, ist diese
Kritik berechtigt. Eine "total moralisierte Welt" mit einer bis ins
Kleinste die Privatsphäre durchdringenden Kasuistik ist aber nicht dasselbe wie
der "Zustand der Moralität", in dem das Moralgesetz wirklich ist und
alle Menschen ohne große moralische Anstrengung ihr Handeln von diesem
bestimmen lassen. Denn Moral als Gesetz der Freiheit beschränkt sich auf die
nötigsten
Regeln, die überhaupt erst eine Selbstverwirklichung aller zulassen. Alles
andere ist moralisch betrachtet
Adiaphora (vgl. Erinnyen Nr. 2, S. 15). Eine solche
Moral ist geradezu die ideelle Bedingung für die Utopie, die Wertmüller
entwirft:
„Ein Kritiker der totalen Vergesellschaftung müßte
dagegen im Auge behalten, daß die Forderung nach Gleichheit allein den freien
Zugang aller zum gesellschaftlichen Reichtum meinen kann und darüber hinaus das
Versprechen des Kommunismus gerade die Ungleichheit ist, die schrankenlose
Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit. Der gesellschaftliche Reichtum, auf
den auch der Kritiker der kapitalistischen Gesellschaft sich positiv zu beziehen
hätte, hat einen in langer grausamer Geschichte erstrittenen Sieg über die
erste Natur zur Voraussetzung. Ein Sieg über die unmittelbare Natur, die einem
nicht mehr geheimnisvoll und allmächtig entgegentritt, aber auch über jene
vorgeschichtliche Natur, die als Schicksalsverfallenheit in menschliche
Naturzusammenhänge wie Familie, Volk oder gar Ethnie den einzelnen in
Sippenhaftung nimmt.“ (Ebda.)
Damit der Einzelne nicht wieder „in Sippenhaftung“
genommen wird, nicht hinter den erreichten Standard der Vergesellschaftung im
Kapitalismus zurückfällt - so prekär der auch ist -, sondern über
diesen hinausgeht, muss eben doch der antizipierten Selbstverwirklichung eine
gewisse Schranke gezogen werden. Diese besteht nicht in einer Grenze des
Reichtums, sondern im jeweils anderen, den ich als Gesellschaftswesen für meine
Verwirklichung benötige. Die Regel, keinen zum bloßen Mittel zu gebrauchen,
sondern immer auch als Zweck an sich selbst anzuerkennen, ist es, die überhaupt
erst die Freiheit ermöglicht, meine Individualität zu verwirklichen, ohne mit
anderen zusammenzuprallen und paralysiert zu werden.
Eine zweite Grenze, die einer „schrankenlose
Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit“ ebenfalls gesetzt ist, besteht in
dem „ewigen Naturzwang“ (Marx) zur Arbeit, der gerecht auf alle Arbeitsfähigen
verteilt werden muss. In der romantischen Verklärung einer zukünftigen
Gesellschaft wird das aber bei Wertmüller ausgeblendet:
„Kompromißlose
Gegnerschaft zur Tauschgesellschaft müßte sich bewußt sein, daß sie das
Unheil auf seinem höchsten Niveau aufheben muß, soll etwas besseres
herauskommen als die moralische Welt der totalen Herrschaft der zweiten Natur.
Die müßte begreifen, daß Kapitalismus keine vom Wertgesetz angelegte
systematische Blutspur durch geschichtslose Zeiten ist, daß theoretische oder künstlerische
Hervorbringungen nicht allein der Befestigung unmenschlicher Zustände dienten,
sondern die Stimme des unglücklichen Bewußtseins sind, die die Subjekt des
Kapitalismus an ein Versprechen der eigenen, ihnen längst fremd gewordenen
Zivilisation erinnert, nämlich das auf Glück und Erfüllung jenseits von
Mangel und Zwang.“ (Ebda.)
Wieder fällt Wertmüller als Gegenmodell zu seiner
befreiten Gesellschaft nichts anderes ein „als die moralische Welt der totalen
Herrschaft der zweiten Natur“. Ohne „zweite Natur“ (Gewohnheiten, zur
Selbstverständlichkeit geronnene Selbstdisziplin, verinnerlichte Regeln der
Gesellschaft usw.) ist keine Beherrschung von Teilen der ersten Natur möglich.
„Glück und Erfüllung jenseits von Mangel und Zwang“ setzt also zumindest
ein Minimum an „Herrschaft der zweiten Natur“ voraus; und auch ein
selbstverständlich gelebtes Moralgesetz gehört zu einer - wenn auch
reflektierten - zweiten Natur. Die Adiaphora für sich zu erweitern wäre
in einer freien Gesellschaft eine Aufgabe der in ihr Lebenden, völlig diesen
einsehbaren Zwang abschaffen zu wollen, nimmt uns als Naturwesen nicht ernst,
macht uns zu Engeln mit Astralleib oder ist eine überspannte Utopie.
Die Tendenz von Justus Wertmüllers Aufsatz, der wir
zustimmen, nämlich vor dem Moralisieren zu warnen, ist kein Grund autonome
Moral aus dem Denken auszuschließen. Amoralische Kritik am Kapitalismus wie
moralisierender Antikapitalismus unterstellen objektiv eine Gesellschaft
jenseits der Kapitalherrschaft, die keine qualitative Verbesserung der
Zivilisation darstellt, sondern entweder in brutale Gewaltförmigkeit zurückfällt
oder in öde Gängelung aller Lebensbereiche durch allgegenwärtige (staatliche)
Tugendwächter. Ist hingegen autonome
Moral, d.i. das Gesetz der Freiheit, ein notwendiges Moment einer
qualitativ höher entwickelten Gesellschaft, dann muss das Moralgesetz schon
jetzt mit den Handlungen derjenigen vermittelt sein, die einen solchen freien
Kommunismus anstreben. Das aber ist ein anderes Thema... (1)
(1) Siehe
hierzu das Pragmatik-Kapitel aus Bodo Gaßmann: Ethik des
Widerstandes, Garbsen 2001.
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